Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

Unterhaltendes und Belehrendes. 
Der Sprung in die Firnskuppe. 
Es mögen etwa 70 und mehr Jahre her sein, da wohnte 
in Heckershausen ein dicker Bauer, der gern, wenn's kühl 
war, auf seinem dicken Bauche mit den Fingern trommelte 
und sich ordentlich was darauf zu Gute that, wenn Fremde 
berdutzt wurden bei seinem Anblick. Wenn's freilich 
heiß war und die Sonne auf sein Bäuchlein schien, dann 
war's ihm weniger lieb; dann drückte er sich gern in ein 
kühles Eckchen. Aber wenn's bitter kalt war, dann war seine 
befte Zeit. Dann sah man ihn wohl in Hemdsärmeln 
Stunden lang auf dem Hofe und in den Ställen herum⸗ 
gehen und lachen, daß sein Bäuchlein sich schütterte, wenn 
er sah, wie die Weibsleute die Hände unter die Schürzen 
steckten und die Knechte in die hohle Hand hauchten. Am 
Schlachtetage war neben der Wurstsuppe und dem Schlach⸗ 
tekohl das sein besonderes Plaisir, sich auf der großen Wage 
zu wiegen, wenn die Schweine gewogen waren. Zu seiner 
Beruhigung setzte er jährlich einige Prund zu und fröhlich 
lobte er dann jedesmal seine Frau für die gute Pflege, die 
er von ihr gehabt. 
Daraus kann man schon schließen, daß Jörg, so hieß der 
Bauer, seinen Sinn so einigermaßen auf's Irdische gerichtet 
hatte. Er war ein dicker, stolzer Bauer, der alle Andere 
neben sich, wenn auch nicht verachtete, doch geringer schätzte 
als sich selbst. Wäre er allein auf dem Hofe gewesen, 
er würde wohl nur am Schlachtetage viel Gäste gesehen 
haben, solche nämlich, die den Löffel mitbringen, im Stehen 
essen, ungeladen kommen, heute in dies Haus, morgen in 
jenes, wo's am Morgen gequieckt hat. 
Aber so war's auf Jörg's Hofe nicht; es war im Winter 
fast jeden Sonntag Nachmittag voll bei ihm; denn er hatte 
eine gar gute Frau, die gern sah, wenn auf den Bänken 
rings an der Wand her Nachbarn und Nachbars Kinder 
saßen, die Jörg's Grobheiten vertuschte und den Aufent⸗ 
halt in ihrer Nähe möglichst angenehm machte. Aber der 
eigentliche Lockvogel war Jörg's Marie Sophie. Ein 
schöneres Mädchen soll weit und breit nicht gewesen sein. 
Daher kam's, daß nicht blos junge Bursche von Heckers⸗ 
hausen, von Weimar und Obervellimar regelmäßige Gäste 
in Jörg's Hause waren, sondern auch junge Herrn von 
Cassel kamen und schnüffelten, ob der Braten nicht etwa 
für sie sei; das war er nun nicht; so erfuhren sie immer gar 
hald; darum zogen sie sich auch bald wieder zurück. 
Aber auch der Schwarm der Bauernbursche wurde dün⸗ 
ner. Die getraueten sich freilich nie so gerade herauszu— 
gehen. Hinten herum das schien sicherer. Aber wenn dann 
eine Goihel oder eine Base einmal abgeschickt wurde, hin— 
zuhorchen, wie der alte Jörg auf Christoph oder Heinrich 
zu sprechen sei, so gab's immer so ziemlich denselben Be— 
icheid. Schmunzelnud hörte er. wie der Freier angepriesen 
ward; er ließ das Alles gelten, am Ende aber hieß es 
„Base, oder Gothel, es muß sich doch Alles so ein Bischer 
haffen! Aber dies Ding da, wobon ihr sprecht, paßt nicht. 
Seht, mein Marie Soͤphie kriegt mein Werk schuldenfre 
und braucht Niemand etwas herauszugeben, hat keinen 
Bruder und keine Schwester, aber vier Hufen und sech 
Gaule, wie sie der Laudgraf nicht besser hat. Da will it 
nun, daß mein Schwiegersohn dazu auch ordentlich paßt!— 
Der armen Anue Giedert, der Frau Jörg's, ward alle 
mal bänglich, wenn der Jörg anhub: „es muß sich doch Allet 
so ein Bischen passen.“ Dann drückte sie sich ab, macht⸗ 
ich in der Küche zu thun und suchte nur durch einen freund 
lichen Abschied an der Hausthür die Freundschaft der Wen 
gehenden sich zu erhalten. 
Daß der Freier weniger wurden, das betrübte die gut 
Frau freilich nicht, noch weniger Marie Sophie; denr 
keiner der Bursche hatte ihre Gunst und Liebe sich zu er 
werben gesucht. Alle blickten nur auf den alten Jörg; den 
aufrichtig geftanden, die Burschen waren damals mei 
nicht viel besser als jetzt. Die hübsche Marie Sophi 
leuchtete ihnen wohl in die Augen, viel mehr aber noch 
die vier Hufen und die sechs Pferde Jörg's. 
Einen Burschen aber kannten Anne Giedert und Mari 
Sophie, der war anders. Das war der Schäfer Martin 
der in dem kleinen Häuschen neben der Kirche, Jörge 
gegenüber, wohnte. 
Martin war der Nachtmahlskamerad ihres einzigen Bru 
ders gewesen, der in seinem sechzehnten Jahre an einer s chle 
henden Kraukheit gestorben war. Während dieser Krankhen 
hatte ihn Martin fast allein gepflegt; ja der Kranke hatt 
zicht gelitten, daß er eine Stunde von seinem Siechbett 
wich. Sein Bette hatte er sich vor des kranken Konra 
Beite immer auf die Erde machen müssen, damit er aud 
in der Nacht um ihn fei und in den laugen schlaflosen 
Nächten ihm die Zeit verkürze durch Erzählungen, woven 
Martin einen reichen Schatz von seiner Großmutter ge 
rbt hatte. Als Konrad starb, wußte Martin auf so tre 
herzige Weise Vater, Mutter und Schwester zu trösten 
vie sonst Niemand, und es war fast, als nehme Marti 
Lonrad's Stelle in Herzen und im Hause Jörg's ein 
Sein Vater war Jörg's Schäfer und Maͤrtin hatte in 
Winter die Schafe füttern und tränken helfen, im Somme 
ber oft den Vater beim Pferch abgelöst. Jetzt aber wurt 
Jörg's Haus seine andere Heimath, und der Platz am Vist 
wo früher Konrad gesessen, wurde ihm ein für alleme 
angewiesen; Konrad's Geschäfte hatte er schon wahren 
dessen Krankheit zum Theil besorgt und jetzt gehörten 
ihm, wie von Rechtswegen, zu. — 
Martins Eltern sahen das und wenn sie's auch uig 
zerade gern sahen, so mußten sie doch so thun; denn 
hingen ganz von Jörg's ab. Wenn Martin einmal wied 
inem Vater half.vann freute sich dieser und sagn
	        
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