Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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denkt;: „Du willst doch in deinem Alter nicht noch 
den Schnupfen kriegen,“ und schließt die Thüren, 
klopft seine Pfeife aus und legt sich in's Bett. 
Er mochte wohl so im ersten Schlummer liegen 
und träumen von den Chinesen und ihren geschlitzlen 
Augen und langen Zöpfen. Da hört er am Fenster 
so etwas bohren, als ob Einer statt durch die Haus— 
thür durch's Fenster kommen wollte. Er steht auf 
und kann auch deutlich merken, daß Einer am Fenster 
ist, der ihm nächtlings ohne Visitenkarte einen Besuch 
machen will, notabene, weniger dem alten Seemann 
als seinen goldnen Vögeln. — Da fällt's dem alten 
Herrn siedend heiß ein, daß er leider seine Säbel, 
Flinten und Pistolen in seiner Waffensammlung hat, 
die weit drüben im andern Flügel des Hauses war, 
und er nichts hatte, womit er sich wehren konnte 
Der Dieb war schon nachgerade mit dem Los— 
schrauben fertig und drückte die Scheibe ein; da war 
aber der alte Seemann schon auf der Stelle. Hatte 
derselbe nämlich auf seinem Nachttisch eine Flasche 
mit Selterswasser stehen, fest zugepfropft und oben 
mit Draht zu. Schnell hat er den Draht herunter 
genommen, hält den Daumen auf den Pfropfen und 
stellt sih an den Vorhang. Der Dieb setzt eben 
seinen Kopf durch die Scheiben und denkt: „wo der 
Kopf durchgeht, geht das Andere auch alles nach;“ 
da drückt der alte Herr an dem Pfropf der 
Flasche (die er noch geschüttelt hatte); das knallt wie 
ein Pistol, und der Pfropf mitsammt dem Selters⸗ 
wasser fährt dem Langfingrigen auf die Stirne und 
in's Gesicht. Der glaubt nicht anders, als daß er 
zum Tode getroffen, und das Blut ihm bereits über's 
Gesicht laufe, und stürzt im Schrecken rücklings zum 
Fenster hinaus in den Hof hinunter, der ein paar 
Fuß tief unten lag. Der alte Herr wußte aus seiner 
Seepraxis, daß man einem geschlagenen Feinde keine 
Ruhe lassen darf, steigt dem Feinde nach, der am 
Boden liegt, und bindet ihm den Hals mit seinem 
Schnupftuch so fest zu, als ob's ein Halseisen wäre. 
Dann bindet er seinen alten Tiras los von der Kette, 
nimmt den Malefikanten und bringt ihn in heller 
Mitternacht hinein nach Haarlem vor die Polizei. 
Darob bekam er vom König von Holland ein Extra— 
dankschreiben, daß er einen so gefährlichen Spitzbuben 
eigenhändig gefangen. 
Das Selterswasser ist ein gut Wässerlein, nicht 
blos gegen den Durst und etliche andere Bresthaftig⸗ 
keiten, sondern auch um Diebe zu fangen. Notabene, 
es muß es Einer aber verstehen, und das Selters— 
wasser muß prima Qualität sein. 
2. War zu B. ein neuer Bürgermeister gewählt 
worden, im Jahre 18.. Das Wählen war nicht 
gerade das Angenehmste bei der Sache; denn Wahl 
macht Qual, und manchmal setzt es noch tödtlicht 
Feindschaft ab, wenn der Gevatter nicht gewähl 
worden ist, und zudem liegt Wählen und Wühlen 
nahe bei einander und sind schier Geschwister-Kind. 
Aber damals war's in dem Städtchen noch nicht so 
Mode; man wählte ohne Ansehen der Person den 
bravsten Mann in der Gemeinde. Das Beste kam 
aber zuletzt, und auf das freuten sich die Raths 
verwandten am meisten, nämlich auf das Essen beim 
Löwenwirth, und auch auf seinen Wein, den er 
extra vom Rhein geholt hatte. Der neue Bürger 
meister wurde mit Reden begrüßt, und der Hen 
Rathsschreiber oder Adjunkt hatte sich eine seint 
Rede einstudirt und sie sich von seiner Frau über⸗ 
yören lassen, ob er sie auch richtig könne, und wan 
vährend des Essens noch einmal mit seinem Papier 
abseits gegangen an einen stillen Ort, um sich selbsl 
noch einmal zu überhören. Als er wieder zurückkam, 
schoß er los, und Alle meinten, so gut habe er ed 
noch nicht gemacht. — Darob stieg ihm aber der 
Hochmuth in den Kopf, und der Wein des Löwen— 
wirths, den er im Magen hatte, sagte zu dem Hoch 
muth: „Halt Bruder! nimm mich auch mit, wir 
wollen miteinander gehen; denn zu Zweil geht sich's 
besser.“ Also wandelten die Zwei miteinander hin— 
auf in's Oberstüblein und guckten durch die gläsernen 
Augenscheiben heraus. Als es gegen Abend wurde, 
hob der Bürgermeister die Tafel auf, um so mehr, 
als sein Adjunkt von einer Rede in die andere fiel, 
denn, dachte er: „hast du's einmal mit Glück pro⸗ 
birt, wird dir's noch einmal gelingen.“ Aber seine 
Frau hatte ihn nicht überhört, und so kam's, daß er 
manchmal in seiner Rede die Hausthür nicht mehr 
fand, wo's hinaus ging. Darum dachte der Bürger⸗ 
meister: „es ist am besten, man hört auf, wenn man 
nichts mehr zu sagen hat.“ So trennte man sich, 
aber die Rathsverwandten wollten nur nach Haust 
zehen und den engen Rock ablegen und ihre großen 
Pfeifen holen und sich dann noch Abends im weißen 
—D 
verwandten recht, war's dem Adjunkten doppelt recht. 
denn er trug ein enges Fräcklein, das ihm der 
Schneider schon gleich in feiner Jugend verpfusch! 
hatte und das ihn nach allen Seiten hin beengte. 
Also ging er nach Hause, sein Fräcklein abzulegen 
und seine Pfeife zu holen. Daheim empfing ihn die 
Frau Adjunktin, die bald die beiden Gesellen im 
Oberstüblein ihres Herrn sitzen sah; aber sie empfing 
ihn nicht mit Hharter diede sondern lobte ihn, daß 
er so früh schon, wie's einer Amtsperson gebühre, 
nach Hause komme, und kein bös Exempel den Leuten 
gäbe. Sie half ihm mit freundlichen Worten aud 
dem engen Frackgefängniß heraus. Als er ihr aber
	        
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