Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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der aus seinem Schatze Neues und Altes hervor 
trägt, Alles in Liebe. Und wenn dann ein Lied an— 
gestimmt wurde, und Mariens Silberstimme so eigen 
an's Herz griff, dann war's Vielen, als wenn ein 
Engel des Trostes und Friedens seine Schwingen 
sanft über den Andächtigen bewege, und ein Hauch 
des Lebens hernieder steige aus einer bessern Welt. 
Wenige im Thale gab's, welche diese selige Erfahrung 
in der Grundmühle nicht gemacht hatten, und darum 
waren auch nur Wenige, welche mit Müllers Schicksal 
nicht die tiefste Theilnahme empfunden hätten. Wol 
sann man nach, wie dem Valentin zu helfen wäre; 
aber Niemand wußte Rath. Drüben in der Berg— 
mühle kamen und gingen die Freunde, die Trost 
spenden oder doch ihre Theilnahme bezeugen wollten, 
und in der Grundmühle wurde es von Freunden 
nicht lerr. Aber verwundert kamen und gingen die 
Meisten. Denn an Trost fehlte es den beiden Familien 
aicht; sie hatten ja den Hirten, der auch im dunkelsten 
Trübsals-Thal seine Freunde mit seinem Stecken und 
Stab tröstet; sie wußten den Weg zu ihm und er—⸗— 
fuhren jetzt den zweiten Theil des Sprüchleins aus 
Valentins Habermännchen: „Gebet erlöst aus Aengsten.“ 
Wohl schlich in den stillen Stunden manche Thräne 
aus der Frauen Augen, und die Männer waren 
ernster und stiller als sonst; Marie war häufig wie 
abwesend und erschrack, wenn man sie anredete. 
Am Sonntag Nachmittag waren Grundmüllers hinüber 
in die Bergmühle gegangen; da hatten die Mütter 
sich herzlich ausgeweint, und die Väter hatten stille 
gesessen; Marie aber hatte draußen an dem Mühlen⸗ 
teiche träumerisch Blumen geflückt und einen Kranz 
gewunden. Dieser Tag hatte die beiden Familien 
enger verbunden, als sie es je zuvor gewesen waren; 
sie waren in eine verschmolzen, ohne daß darüber 
geredet wurde. Und dieses Gefühl der innigsten 
Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung, des Lebens 
und Liebens hatte den Frieden in ihrem Herzen ge— 
klärt, erhöht und befestigt, so daß, als gegen Abend 
der alte Pfarrer Stahl eintrat, auch er kaum zu 
trösten wagte, sondern, hoch getragen von der Kraft, 
welche Gottes Wort und Gebet gebracht, im Namen 
Gottes Erfüllung der Gebete freudig verheißen konnte. 
Welchen Weg der Rettung die Angefochtenen würden 
geführt werden, welche Mittel die Barmherzigkeit 
Gottes ergreifen würde, das war der kleinen Gemeinde 
—VDD 
bar herrlich hinausführen werde, das stand felsenfest, 
und als die Sonne sank, da schieden der Pfarrer 
und Grundmüller sreudig und zuversichtlich, und 
Marie trug ihren Kranz am Arm. 
Und schon war der Herr mit seiner Hülfe auf 
dem Wege. 
Den Montag Morgen schickte Feldscheer Wolf zu 
»em Pfarrey Stahl; denn in der Nacht war wit 
einen Patienten eine werkwürdige Vexänderung vor⸗ 
zegangen. Der schwarze Stoffel hatte geschlafen 
vie ein Murmelthier, und gegen Morgen hatte er 
erklärt, es fehle ihm nichts mehr; aber Hunger und 
Durst habe er wie ein Löwe. Von dem Bestle 
des rothen Wiegand dagegen kamen Seufzer und 
Schmerzenslaute, wie man sie bisher nicht von ihm 
zehört hatte. Während der schwarze Stoffel es sich 
chmecken ließ, bai der rothe Wiegand den Doctor 
Wolf, er moͤge ihm doch den Pfarrer rufen lassen, 
ex muͤsse nothwendig mit ihm sprechen. Wolf eilte 
elbst zu dem Pfarrer und theilte ihm Wiegand' 
Bitie mit. Dann schlich er in die Wohnung dee 
Affefsors und theilte ihm mit, wie es in seiner Klini 
tand, und forderte ihn auf auch zu kommen und zu 
sören, was Wiegand dem Pfarrer etwa beichten 
vberde. Brummend folgte der Assessor und setzte 
ich in dem Nebenzimmer an die Wand der Kranken— 
tube, die dünn und schadhaft war, so daß man leicht 
»ernehmen konnte, was darin gesprochen wurde. Der 
hfarrer war noch nicht daz ein unerwartetes Hinderriß 
jatte ihn aufgehalten. Aber die beiden Kranken 
velen mit einanber, und der Assessor verstand vollb 
ommen genau, und was sie redeten, das war ihn 
ollkommen genug. Der schwarze Stoffel suchte den 
Wiegand zu etwas zu überreden. Laß das dumme Zeus 
nit dem Pfaffen sprach er, du weißt, wie du mit ihtn 
tehst. Du gehst in keine Kirche und zu keinem Abend⸗ 
nahl. Wie oft hat er dich rufen lassen, ermahnt und 
gescholten. Was willst du mit ihm; was hoffft du 
bu'ihm? Der kann vr nicht helfen.' Sei nur frisch 
ind getrost wie ich; dann geht auch deine Schwäche 
rüber, umd was ich dir verheißen, das halte i 
Du sollft sehn, wir werden noch manches schöne gahr 
nit einander leben und uns des Lebens freuen. 
Aber Wiegand antwortete: wenn du noch länger 
eben willst, so kann ich nichts dazu thun und nichts da 
zegen haben. Ich aber sterbe; Pfingsten erlebe ich nicht 
doͤl kaum den nächsten Tag. Was du mir also ver— 
prichft, kann ich nicht mehr brauchen. Was mir aber de 
zute Pfarrer so oft angeboten, das brauche ich sehr; dar⸗ 
aach verlangt mich, wie das Kind nach der Mutlerbrust 
Du bist nicht gescheut! entgegnete Stoffel. 
ehlt nichts, als ein tüchtig Stuck magerer Speck un 
ein Kannchen Korn! Der Wolf hält Cinen so knaph— 
daß man ganz von Kräften kommt. Wenn er wieder 
tommt, dann bestell ich's für dich. p 
Gib dir keine Müh und mach' dir meinetwegn 
eine Unkosten; ich habe Hunger nach Gottes Bo 
und nach Vergebung meiner Sünden, und das lan 
mir nicht Wolf und du nicht verschaffen!
	        
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