Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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kräftigstett Kräutern. Mädchen und Bursche suchten 
um die Wette die gelbe Johannisblume (Arnica), 
Sanikel, den steifen Heurich, und wie sie alle heißen, 
die für gut gegen allerlei Krankheiten gehalten wurden. 
Ueber dem Sammeln war's Mittag geworden; die 
mitgebrachten Tücher waren voll Kraͤuter, und alle 
zogen, Marie in der Mitte der Mädchen, Valentin 
in der Mitte der Burschen, singend dem Bergwerke zu. 
Beim Bergwerk war schon eine große Menge aus 
den umliegenden Dörfern versammelt, und alle 
warteten auf die Bergleute, welche zum Tanze auf— 
spielen sollten. 
Endlich erklangen die Geigen zum Stimmen, und 
die Clarinetten gaben den Ton an. Bald gab's 
Leben unter der hier und dort lagernden Menge, und 
sobald der erste Walzer aufgespielt wurde, schwenkten 
sich die Paare in Frohsinn und lautem Jubel. 
Kaum waren einige Tänze getanzt, so war eine 
großartige Schlägerei im Gange. Lautes Schreien, 
schweres Seufzen der Unterliegenden, Fluchen, Toben 
— Alles was Garstiges im Menschenherzen schläft, 
war aufgewacht und schäumte über. Wie die Schlägerei 
eigentlich entstanden, wußte kein Mensch; nur einer 
der Musikanten wollte gesehen haben, wie der schwarze 
Stoffel, ein Bäckergeselle von der Schwalm, einem 
der Mädchen beim Tanzen ein Bein gestellt habe. 
Aber nun war er nirgends zu finden; die im Knäuel 
geballten Bursche schlugen mit ihren starken Fäusten 
gerade aus, einerlei wen sie trafen und wohin sie 
trafen; sie bekamen wieder ihre Püffe und wußten 
nicht von wem. Es war zu entsetzlich anzusehen. 
Valentin und Marie standen beiseits; sie drückten 
sich verstohlen die Hände; sich anzusehn, wagten sie 
nicht; aber ihr Händedruck war ihnen mehr als 
Musik und Tanz, und darüber hatten sie nicht bemerkt, 
wie der Klumpen der rasenden Schläger plötzlich sich 
auf sie zuwälzte; wie plötzlich ein Arm herausgriff, 
den Valentin packte und hinein in den dichtesten Knäuel 
der Kämpfenden schleuderte. Marie stand erstarrt 
und wäre vielleicht auch in den Strudel gekommen, 
wenn nicht Greben Konrad sie mit einem kräftigen 
Ruck zuruͤckgerissen hätte. Ach, Gott, Konrad! Hilf 
doch! stammelte das trostlose Mädchen; sie schlagen 
ja meinen Valentin todt, und dann kreische ich mir 
die Augen aus dem Kopfe! 
Dem Konrad that das Mäͤdchen leid; doch seine 
kühle Natur fand Zeit zu Utz und Spott. Also 
dein Valentin! rief er lachend. Seid ihr soweit 
heute erst gekommen? Diesen Morgen trotteltet ihr 
neben einander hin, als wenn ihr euch nicht kenntel 
und einander nichts anginget; aber wenn's dein 
Valentin ist, dann müssen wir 'mal sehen, was sich 
thun läßt. den armen Jungen raus zu kriegen. 
Behutsam trat er an einen Busch, dem sich der 
daufen eben zuwälzte. Aber von Valentin war 
nichts zu sehn. Dem Konrad wurde doch auch bange 
um ihn. Da auf einmal drang aus der Mitte des 
wvüsten Haufens ein Schrei — ein Schrei, oder viel 
nehr ein Gebrüll und Geröchel, das Mark und Bein 
durchdrang, das Blut erstarren machte und das Haa 
auf dem Kopfe bolzenstrack sträubte, ein Schrei se 
voll von wüthendem Grimm, so voll von furchtbarem 
Schmerz, daß plötzlich aller übrige Lärm verstummte, 
ind der Knäuel der Raufenden wie vom Blitz ge 
roffen sich auflöste. Und nicht genug damit, ein 
eder der Schläger flüchtete, wie wenn er einen Mord 
begangen hätte, hinter die nächsten Bäume. Auf der 
Wahlstatt aber lagen drei der Kämpfer blutend und 
wie todt, und in dem einen derselben erkannte Konrat 
insern Valentin. Mit einem Satze sprang er zu— 
riß den Ohnmächtigen in die Höhe, legte ihn wie 
»einen Sack über die Schulter und verschwand mi 
hm im Walde. Hinter einem dichten Busch legtt 
er ihn nieder, rüttelte an ihm, rief ihn, riß ihm dit 
Weste auf, — kein Lebenszeichen war zu spüren. In 
Todesangft lief er zurück, um Wasser und Brannt⸗ 
wein zu holen, damit die Belebungsversuche zu 
erneuern. Aber kaum war er wieder auf den freien 
Platz zurückgekehrt, so griff eine starke Hand ihn auß 
der Brust und zog ihn in einen Kreis, der sich um 
den Obergensdarmen gebildet hatte. Der war 
gerade erschienen, als Konrad mit Valentin im Walde 
berschwunden war. Die beiden, die neben Valentin 
zelegen hatten, waren zwar aufgehoben worden, und 
man hatte sie mit Wasser abgewaschen; aber sie waren 
aoch wie toͤdt. Der eine von beiden war der rothe 
Wiegand, der bei keiner Schlägerei fehlte, der andere 
der schwarze Stoffel. Als man ihm den immer 
vieder zuckenden linken Arm untersuchte, siehe, do 
war der kleine Finger an der Wurzel ratsch ab, und 
das Blut strömte aus der schrecklichen Wunde. Man 
holte alle Spinnengewebe, die an dem Berghäuscher 
ich fanden, zusammen; die Burschen suchten ihren 
Zündschwamm aus den Taschen; die Mädchen boter 
Tücher dar, und der Feldscheer Wolf von G. legit 
unstgerecht den Verband an. Aber die Besinnun⸗ 
kehrte weder bei Stoffel noch bei Wiegand zurüch 
und Wolf meinte, es koönnte eine innerliche Verletzun⸗ 
eine Erschütterung des Gehirns Siatt gefunder 
aben. 
Während man so um die Verunglückten beschäftigt 
war, hielt der Obergensdarm Verhoͤr. Zuerst notirte 
er fich die Anwesenden; dann fragte er nach den 
etwa Durchgebrannten, — da wurde Valentin genaunt. 
Wo war ber hin? Mehrere hatten ihn auch da 
segen gesehen; aͤber wohin er gelommen war, wußie
	        
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