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kommst du?« Mit dieser Frage umdrängten Alle das
gerettete Knäblein. Diesem war über dem entsetzlich
Ungewöhnlichen alle Besinnung für eine Weile ver“
loren gegangen, und es konnte nichts sagen, als, es
sei eben in's Meer gefallen. Wohl kam dem Kinde
nach einiger Zeit die deutliche Erinnerung wieder;
aber eine innere Stimme, ein geheimes Gefuͤhl sprach
zu ihm: „Sag' es nicht, verrath' deinen Vater nicht!“
Mit zärtlicher Fürsorge wurde das Knäblein behandelt
und war bald der Liebling Aller auf dem Schiffe,
ja so recht das geliebkoste Spielzeug und die allge—
meine Unterhaltung der Schiffsmannschaft, um seines
wunderbaren Schicksals, wie um seiner lieblichen Er—
scheinung willen, welche das Herz auch der rauhesten
Schiffsleute rührte. So verging eine längere Zeit;
dann wurde es Allen, die etwas dabei zu sagen
—DDDDD auf
dem Schiffe aufwachsen zu lassen, selbst wenn es die
Schiffahrtskunst erlernen wollte. Man beschloß also,
es eine geregelte Schule auf dem festen Lande besuchen zu
lassen. Dies geschah bei der nächsten wiederkehrenden
Gelegenheit. Jahre gingen hin; Jakob (so hieß der
Knabe) ward ein Juͤngling und besuchte die hohe
Schule; und da er mit Fleiß und ernstem Sinn
den Wissenschaften oblag, so wurde bestimmt, daß
er ein Arzt werden sollte, was ihm auch durch wohl⸗
bestandene Prüfungen vortrefflich gelang.,
Um diese Zeit waren die Kriege am Ende
des vorigen Jahrhunderts ausgebrochen, und auch
das Meer wurde im Kampfe zwischen Engländern
und Franzosen mit Blut gefärbt. Der junge Arz!
trat in den Dienst eines englischen Kriegsfchiffes.
Nicht allzu lange, so machte er ein ernstes Seegefecht
zwischen englischen und französischen Schiffen mit.
Sein Schiff schoß ein französisches hart an, welches
sofort zu sinken anfing. Die Franzosen ergaben sich;
die Engländer nahmen Besitz von dem leckgewordenen
Schiff und machten die stark gelichtete Mannschaft
zu Gefangenen. Unter letzteren befanden sich viele
Schwerverwundete, auch ein greiser, hagerer Mann,
gebräunt vom Alter, in dessen tiefe Stirnfurchen viele
ernste Erlebnisse eingezeichnet schienen, obschon in
seinen Mienen ein milder und sanfter Zug lag, so
daß sich Jakob, auch schon um der schweren Ver—
wundung willen, mit besonderer Liebe und Treue
seiner annahm. Aber wie sorgfältig auch die Pflege
war, das zerschossene Bein mußte doch zuletzt abge—
nommen werden, und bald genug sah man die tödt—
lichen Folgen der Operation deutlich herannahen. Da,
am Morgen seines Sterbetages, rief der Schwer—
verwundete noch ? einmal den jungen Arzt an sein
Lager und sagtes“ihm mit herzlicher Stiimme Dank
ür seine treue Liebe. Er habe nunzNiemand mehr
auf der Welt; aber er — der Arzt — habe so viel
Treue an ihm erwiesen, daß er ihm das Liebste, was
er habe, den einzigen Schatz und Trost im Leben
und im Sterben, vermachen wolle, seine Bibel, gegen
das eine Versprechen nur, daß er sie fleißig lese.
Jakob, dem die Erkenntniß der Schrift noch etwas
Fremdes war, wurde von ernster Hochachtung vor
diesem Zeugniß des Sterbenden erfüllt und versprach
ihm treulich, was er verlangte. Da hob der Sterbende
aoch einmal an: „Höret nun aber auch noch meini
Beichte, die ich gerne vor Euch ablegen möchte. Ein
armer Sünder liegt vor Euch, der freilich Gnade
bei Gott gefunden und auf die Barmherzigkeit Jesu
Christi im festen Glauben von dieser Welt abscheidet,
aber doch mit einem tiefen Weh von hinnen geht. Ich
war ehedem“, fuhr der Alte fort, „ein roher Mensch
und arger Sünder und habe mein einziges Kind, ald
2s mich, den Trunkenen, einst um Brod anrief, im
Zorn in's Meer geschleudert, wo es von den Wellen
mit fortgerissen wurde. Unstät und flüchtig trieb
mich, nach dieser Kainsthat das böse Gewissen weit
in viele Länder, und ich ging so unter dem Fluch
des Gewissens bis gegen mein fünfzigstes Jahr dahin,
bis mich Gottes Gnade durch dieses Buch wie einen
Brand aus dem Feuer riß. Ich habe Gnade und
Vergebung gefunden; aber der Schmerz um mein
dind nagt eben doch an meiner Seele. Ach mein
Jakob! Wo ist mein Jakob hingekommen?“ — Wir
wissen, welch einen Auftritt es jetzt geben mußte.
„Ich bin dein Jakob! hier ist dein Jakob! mit diesen
Worten fiel der Arzt dem weinenden Vater um den
Hals. Ja, dessen leise Ahnung, die ihm unter Jakobs
liebevoller Pflege gekommen, hatte fich herrlich be⸗
tätigt. „Vergieb, vergieb mein Sohn!“ rief jetzt der
alte Vater aus. Der Alte war nun der Jakob, der
seinen Joseph wieder gefunden hatte. — Joseph“
wollte er jetzt auch den wiedergefundenen Sohn um⸗
getauft haben. Wie selig und fröhlich kounte er
jetzt sterben, gleich dem Erzvater, der sprach: „Nun
will ich gerne sterben, nun ich meinen Sohn Joseph
wiedergefunden habe!a Gott hatte jetzt alle Hüllen
veggethan. — Aber daß Jakob hernach im Besuz des
»äterlichen kostbaren Vermächtnifses nicht weiter ge—
ommen wäre, das werden wir sicherlich auch nicht
zlauben. Von dem Tage an kanm die Bibel nicht
nehr von ihm weg. Nach der Landung verließ er
eine Stellung als Schiffsarzt, lebte längere Zeit in
aller Stille und Zurückgezogenheit, vor“ Allem mit
einer Bibel beschäftigt, und krat endlich nach laͤngerer
Zeit als ein mit dem Worte Gottes wohl vertrauter
Prediger wieder an die Oeffentlichkeit.
In den ersten IJahrzehnten unseres Jahrhunderts
erzählte ein Reiseprediger diese Geschichte in Paris
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