Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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kommst du?« Mit dieser Frage umdrängten Alle das 
gerettete Knäblein. Diesem war über dem entsetzlich 
Ungewöhnlichen alle Besinnung für eine Weile ver“ 
loren gegangen, und es konnte nichts sagen, als, es 
sei eben in's Meer gefallen. Wohl kam dem Kinde 
nach einiger Zeit die deutliche Erinnerung wieder; 
aber eine innere Stimme, ein geheimes Gefuͤhl sprach 
zu ihm: „Sag' es nicht, verrath' deinen Vater nicht!“ 
Mit zärtlicher Fürsorge wurde das Knäblein behandelt 
und war bald der Liebling Aller auf dem Schiffe, 
ja so recht das geliebkoste Spielzeug und die allge— 
meine Unterhaltung der Schiffsmannschaft, um seines 
wunderbaren Schicksals, wie um seiner lieblichen Er— 
scheinung willen, welche das Herz auch der rauhesten 
Schiffsleute rührte. So verging eine längere Zeit; 
dann wurde es Allen, die etwas dabei zu sagen 
—DDDDD auf 
dem Schiffe aufwachsen zu lassen, selbst wenn es die 
Schiffahrtskunst erlernen wollte. Man beschloß also, 
es eine geregelte Schule auf dem festen Lande besuchen zu 
lassen. Dies geschah bei der nächsten wiederkehrenden 
Gelegenheit. Jahre gingen hin; Jakob (so hieß der 
Knabe) ward ein Juͤngling und besuchte die hohe 
Schule; und da er mit Fleiß und ernstem Sinn 
den Wissenschaften oblag, so wurde bestimmt, daß 
er ein Arzt werden sollte, was ihm auch durch wohl⸗ 
bestandene Prüfungen vortrefflich gelang., 
Um diese Zeit waren die Kriege am Ende 
des vorigen Jahrhunderts ausgebrochen, und auch 
das Meer wurde im Kampfe zwischen Engländern 
und Franzosen mit Blut gefärbt. Der junge Arz! 
trat in den Dienst eines englischen Kriegsfchiffes. 
Nicht allzu lange, so machte er ein ernstes Seegefecht 
zwischen englischen und französischen Schiffen mit. 
Sein Schiff schoß ein französisches hart an, welches 
sofort zu sinken anfing. Die Franzosen ergaben sich; 
die Engländer nahmen Besitz von dem leckgewordenen 
Schiff und machten die stark gelichtete Mannschaft 
zu Gefangenen. Unter letzteren befanden sich viele 
Schwerverwundete, auch ein greiser, hagerer Mann, 
gebräunt vom Alter, in dessen tiefe Stirnfurchen viele 
ernste Erlebnisse eingezeichnet schienen, obschon in 
seinen Mienen ein milder und sanfter Zug lag, so 
daß sich Jakob, auch schon um der schweren Ver— 
wundung willen, mit besonderer Liebe und Treue 
seiner annahm. Aber wie sorgfältig auch die Pflege 
war, das zerschossene Bein mußte doch zuletzt abge— 
nommen werden, und bald genug sah man die tödt— 
lichen Folgen der Operation deutlich herannahen. Da, 
am Morgen seines Sterbetages, rief der Schwer— 
verwundete noch ? einmal den jungen Arzt an sein 
Lager und sagtes“ihm mit herzlicher Stiimme Dank 
ür seine treue Liebe. Er habe nunzNiemand mehr 
auf der Welt; aber er — der Arzt — habe so viel 
Treue an ihm erwiesen, daß er ihm das Liebste, was 
er habe, den einzigen Schatz und Trost im Leben 
und im Sterben, vermachen wolle, seine Bibel, gegen 
das eine Versprechen nur, daß er sie fleißig lese. 
Jakob, dem die Erkenntniß der Schrift noch etwas 
Fremdes war, wurde von ernster Hochachtung vor 
diesem Zeugniß des Sterbenden erfüllt und versprach 
ihm treulich, was er verlangte. Da hob der Sterbende 
aoch einmal an: „Höret nun aber auch noch meini 
Beichte, die ich gerne vor Euch ablegen möchte. Ein 
armer Sünder liegt vor Euch, der freilich Gnade 
bei Gott gefunden und auf die Barmherzigkeit Jesu 
Christi im festen Glauben von dieser Welt abscheidet, 
aber doch mit einem tiefen Weh von hinnen geht. Ich 
war ehedem“, fuhr der Alte fort, „ein roher Mensch 
und arger Sünder und habe mein einziges Kind, ald 
2s mich, den Trunkenen, einst um Brod anrief, im 
Zorn in's Meer geschleudert, wo es von den Wellen 
mit fortgerissen wurde. Unstät und flüchtig trieb 
mich, nach dieser Kainsthat das böse Gewissen weit 
in viele Länder, und ich ging so unter dem Fluch 
des Gewissens bis gegen mein fünfzigstes Jahr dahin, 
bis mich Gottes Gnade durch dieses Buch wie einen 
Brand aus dem Feuer riß. Ich habe Gnade und 
Vergebung gefunden; aber der Schmerz um mein 
dind nagt eben doch an meiner Seele. Ach mein 
Jakob! Wo ist mein Jakob hingekommen?“ — Wir 
wissen, welch einen Auftritt es jetzt geben mußte. 
„Ich bin dein Jakob! hier ist dein Jakob! mit diesen 
Worten fiel der Arzt dem weinenden Vater um den 
Hals. Ja, dessen leise Ahnung, die ihm unter Jakobs 
liebevoller Pflege gekommen, hatte fich herrlich be⸗ 
tätigt. „Vergieb, vergieb mein Sohn!“ rief jetzt der 
alte Vater aus. Der Alte war nun der Jakob, der 
seinen Joseph wieder gefunden hatte. — Joseph“ 
wollte er jetzt auch den wiedergefundenen Sohn um⸗ 
getauft haben. Wie selig und fröhlich kounte er 
jetzt sterben, gleich dem Erzvater, der sprach: „Nun 
will ich gerne sterben, nun ich meinen Sohn Joseph 
wiedergefunden habe!a Gott hatte jetzt alle Hüllen 
veggethan. — Aber daß Jakob hernach im Besuz des 
»äterlichen kostbaren Vermächtnifses nicht weiter ge— 
ommen wäre, das werden wir sicherlich auch nicht 
zlauben. Von dem Tage an kanm die Bibel nicht 
nehr von ihm weg. Nach der Landung verließ er 
eine Stellung als Schiffsarzt, lebte längere Zeit in 
aller Stille und Zurückgezogenheit, vor“ Allem mit 
einer Bibel beschäftigt, und krat endlich nach laͤngerer 
Zeit als ein mit dem Worte Gottes wohl vertrauter 
Prediger wieder an die Oeffentlichkeit. 
In den ersten IJahrzehnten unseres Jahrhunderts 
erzählte ein Reiseprediger diese Geschichte in Paris 
— 
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