Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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Die Social-⸗Demokraten rufen natürlich: „Das 
Großcapital trägt allein die Schuld“. Und umge— 
kehrt die Capitalbesitzer: „Ihr Social-Demokraten 
mit euren wahnsinnigen Lehren, mit denen ihr die 
Arbeiter unzufrieden und unbrauchbar macht“. Die 
Particularisten rufen: „Die Großstaaterei ist an 
Allem schuld“. Die Nationalen schieben den 
Particularisten die Verantwortung zu ꝛc. ꝛc. — — 
Wer wollte leugnen, daß alle auch wirklich triftige 
Gründe für ihre Anklagen aufbringen können! Aber was 
hilft das Anklagen? Wie ist zu helfen? darum gilt's. 
Der alte Schulze-Delitzsch begehrt als Heilmittel 
mehr Bildung; denn ein gebildeter Mensch werde 
sich nie einem Laster ergeben. (17) — Aber die 
— jetzt vielleicht bedeutendste — Autorität in der 
Gelehrten-Welt auf dem Gebiet der National⸗Oeco— 
nomie*) schreibt: „Es wäre eine arge Verkennung 
der menschlichen Natur, wenn man glauben 
wollte, daß die Selbstbeherrschung und gegen— 
seitige Duldung von Reich und Arm, die zu 
heilsamer Entwickelung des Volkslebens unentbehrlich 
ist, auf bloßer Einsicht ohne Religion be— 
— 
mancher Gebildete den Socialismus dadurch bekämpfen 
will, daß er um sich her eine religiöse Halbbildung 
verbreitet; die kann im Ernste bloß zur Weiter— 
verbreitung dieser traurigen Irrlehren 
führen. — — Unter allen vorgeschlagenen Reformen 
der gesellschaftlichen Verhältnisse ist keine einzige, die 
nicht zu ihrer haltbaren Voraussetzung eine wesent— 
liche Steigerung echter Religiosität im 
Volke voraussetzt. 
Der gelehrte Mann hat damit gewiß das rechte 
Wort gesprochen. Und wer es aufrichtig meint mit 
dem wirthschaftlichen und sittlichen Wohle unsres 
Volkes, der muß mit Hand anlegen zur „Steigerung 
echter Religiosität im Volke,, Im Volks— 
leben gibt es aber keinen wichtigeren Halt für die 
Religiosstät als eine strenge Sonntagsheiligung. 
Und das gehört unstreitig zu den erfreulichen Zeichen 
der Zeit, daß man von den verschiedensten Seiten an⸗ 
fängt, um Wiedergewinnung des Sonntags 
für unser deutsches Volk sich zu regen und zu 
bemühen. Nicht allein Pfarrer und Lehrer, sondern 
auch Fabrikanten, Kaufherren, Landwirthe und Aerzte, 
ja Leute jedes Standes und Berufes hahen sich zu— 
sammengethan, um unserm deutschen Volke seinen 
Sonntag wiederzuerobern. Man fängt an zu er— 
kennen, daß eine gewissenhafte Sonntagsfeier 
das Geheimniß der Krafterneuerung der 
Völker ist. — 
* W. Roscher. 
Ja, und es ist merkwürdig und Dir, lieber Leser, 
ielleicht auch schon aufgefallen, daß gerade die reich— 
ten Völker der Erde diejenigen sind, welche den 
Sonntag, oder, was die Juden betrifft, den Sabbath 
genug, nach göttlicher Anordnung unter 7 Tagen 
Finen) am gewissenhaftesten feiern, die Engländer, 
Amerikaner und Juden. Es muß demnach doch der 
Eine Tag mehr, den man wider Gottes Gebot 
mit Arbeit meint ausfüllen zu müssen, den Reich— 
hum nicht bringen; sonst müßten ja jene Völker 
gjerade ärmer sein, als die andern, welche auch den 
sten noch arbeiten. Nein, es muß vielmehr an dem 
7ten mit Arbeiten Etwas zu verlieren sein, was man 
nit Nichts wieder einbringen kann, nämlich — Gottes 
Zegen, an dem Alles gelegen. Es muß wohl 
o fein, wie es das Sprüchwort unsrer Väter als 
hre Erfahrung bezeugt: „Was der Sonntag erwirbt, 
schon der Montag verdirbt;“ es muß kein Segen 
sein bei der Sonntagsarbeit. Es muß wohl so sein, 
haß der Gott, der uns nach Leib und Seele ge— 
schaffen, uns auch am besten kennt und am besten 
veiß, daß wir unter 7 Tagen eines heiligen Ruhe— 
tages bedürfen, um an den 6 andern tapfer arbeiten 
zu können. 
Aber wie es jedem Einzelnen gar leicht gemacht 
wird, die Wochenarbeit am Sonntag zu lassen, 
venn ihn die starke Macht der allgemeinen öffent— 
ichen Sitte stützt, so wird es dem Einzelnen gar 
chwer, wenn die allgemeine öffentliche Sitte einer 
trengen Sonntagsheiligung aufgehört hat. Ja, 
ieber Leser, wenn Du etwa in der Stadt wohnsi 
und hältft da Deinen Sonntag gewissenhaft, denke 
nicht, das sei ebenso leicht auf dem Lande. Wenn 
da das Wetter lange Zeit regnerisch gewesen, daß 
man sein Heu oder Grummet ꝛc. nicht hat einbringen 
vnnen, und nun an einem Sonntage lächelt die 
Sonne so hell vom Himmel herunter, als wollte sie 
elbst einladen, den Segen Gottes auch einzuheimsen, 
ind der Nachbar von links und rechts eilt mit Rechen 
und Heugabel ꝛc. hinaus, — da entspinnt sich auch 
im Herzen manches sonst entschiedenen Christen leicht 
rein Parlamentiren zwischen Gottes Gebot und den 
»eignen Wünschen, welche letztere sich dann unter der 
Firma der erlaubten Werke der Liebe und Noth so 
gern einschmuggeln möchten, und das Parlamentiren 
endet mit dem Nachgeben an die Wünsche des 
Herzens. Ist aber einmal nachgegeben, dann ist der 
Damm durchbrochen, und wird Einem Alles zu 
„Werken der Liebe und Noth.“ Weißt Du, was 
dazu gehört, um in der Sonntagsheiligung fest zu 
bleiben? — Dazu gehört ein fester lebendige! 
Glaube an den lebendigen, starken und eifriger 
Gott, der da Manus genug ist, um sowohl die
	        
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