Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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„Er muß den weißen Spatz sehen." 
Der Schlaf, er ist der größte Dieb, 
Er raubt das halbe Leben. 
Bei uns zu Lande hat man ein Sprüchwort, das 
heißt: „Er muß den weißen Spatz sehen.« Das redet 
gerade nicht für sich wie etwa das: „Jung gewohnt, alt 
gethan«, oder wie das: „Ehrlich währt am längsten,« 
aber seine Bedeutung ist nicht weniger wahr; darum 
gebe ich sie, wie ein alter Freund sie mir gegeben. 
Es war ein Bauer, bei dem gings den Krebsgang 
von Jahr zu Jahr mehr. Sein Vieh siel Stück für 
Stück, seine Aecker trugen nicht die Hälfte von dem 
ein, was sie tragen mußten, und die Ellenbogen singen 
schon bereits an durch das Wams zu sehen, während 
der Stenerpfänder und Pfandverkaufer fast wöchentlich 
zum Fenster hinein sah und höflich grüßend zu ihm 
sprach: „Es thut mir leid, Herr Rückwärts, euch 
ineommodiren zu müssen, aber ich muß meine 
Schuldigkeit thun. 
Ihre Schuldigkeit mit Bitten und Rathen und 
Helfen hatten auch bereits die Hausfreunde gethan, 
aber Einer nach dem Andern war mit der Erklärung 
daheim geblieben: „dem Rückwärts ist nicht mehr 
zu helfen." Da war aber Einer, der hatte das 
Herz auf dem rechten Flecke, denn er hatte, wie es 
der Psalm heißt, ein „neues Herz," und das ist 
bekanntlich nicht nur ein frommes, sondern auch ein 
Auges. Wie der mit dem Rückwärts einmal hinter 
dem Glase saß, so brachte er wie durch Zufall die 
Rede auf die Spatzen, erzählte von diesem Gevögel 
dies und das, wie gar erstaunlich sie sich mehrten, 
wie sie schlau und gefräßig wären, und der Rück 
wärts nickte dazu und meinte, seine Waizenäcker 
trügen seit lange nicht mehr so gut, zweifelsohne 
wär' der Spatzensraß d'ran schuld. 
Der Hausfreund ließ es dahingestellt und fuhr 
fort: „Aber Nachbar, habt ihr denn schon einen 
weißen Spatzen gesehen?" 
„Nein," gab der Rückwärts zur Antwort, „die 
hier herumfliegen, sind Alle grau." 
„Glaub's wohl," sagte darauf der Nachbar, „mit 
lem weißen Spatzen hat es sein eigen Bewenden. 
Alle Jahre kommt nur einer zur Welt, und weil 
er gar absonderlich ist, so beißen ihn die andern, 
und er muß sein Futter suchen am frühen Morgen 
und dann wieder zu Neste gehen." 
. „Das wäre!" sagt der Rückwärts, „den muß 
-ch sehen, und gelingt's, so fang' ich ihn auch." 
Am nächsten Morgen in aller Frühe war der 
Bauer auf den Beinen und ging auf einem Hofe 
hin und her, und ging um seinen Hof herum, auch 
ein Stücklein in's Feld hinein, und schaute nach den 
Dächern und auf's Feld hinaus, ob der weiße Spatz 
nicht bald vom Neste käme. Aber der wollte nicht 
kommen und das verdroß den Bauer, aber noch 
mehr, daß auch sein Gesinde nicht aus dem Neste 
wollte, und die Sonne stand doch schon hoch. Dazu 
schrie das Vieh in den Ställen vor Hunger, und 
war Niemand da, der ihm Futter gab. 
Indem sieht er einen Knecht aus dem Hause 
kommen, der trägt einen Sack auf der Schulter und 
will schnell zum Hofthor hinaus; dem eilt er nach 
und nimmt ihm die Last_ ab; denn in die Mühle 
sollte sie nicht, sondern in's Wirthshaus, wo der 
Knecht stark auf der Kreide stand. 
Nach dem weißen Spatzen sehend, schaut der 
Bauer in den Kuhstall hinein, wo eben die Milch 
magd einer Nachbarin durch's Fenster die Milch zum 
Morgenkaffee reicht, und die Milch war nicht mit 
des Herrn, Maaß gemessen. „Eine saubere Wirth 
schaft das," denkt der Bauer und weckt scheltend 
sein Weib, und erklärt, das lange Schlafen müsse 
ein Ende haben, oder er wolle nicht Rückwärts 
heißen. Und bei sich selber denkt er, stehe ich frühe 
auf wie heute, so muß auch das Packvolk auf dem 
Hofe heraus, und dabei sehe ich am Ende doch den 
weißen Spatzen, und will's das Glück, so fange ich 
ihn auch. 
Wie aber der Bauer das etliche Wochen so ge 
trieben hatte, da sah er nicht mehr nach dem weißen 
Spatzen, sondern dachte allein an seinen Vorsatz und 
ans dem Rückwärts ward bald ein Vorwärts. Und 
als der Nachbar wiederkam und ihn fragte: „Wie 
steht's, Gevatter, habt ihr den weißen Spatzen 
gesehen?" da lächelte dep Bauer und gab dem 
Freunde die Hand und sagte: „Gott lohn's euch!" 
Die Titel am Hofe zu Cassel. 
Als der Pfalzgraf Johann Casimir seinen Rath 
und Obristen vr. Beuterich an Landgraf Wilhelm IV. 
den Weisen abgeordnet hatte, um über ein von dem 
Landgrafen zugesagtes Geldanlehen zu unterhandeln, 
wurde der Pfälzische Gesandte, wie gewöhnlich, zum 
feierlichen öffentlichen Verhör (zur Audienz) einge 
führt. Da fing nun Dr. Beuterich in der üblichen 
Weise an, seine Rede zu halten, und begann: Gnä 
digster Fürst und Herr, Herr Landgraf zu Hessen, 
durchlauchtigster Herr, Herr Graf zu Katzenellnbogen 
und so weiter, wie sich denn das gehörte und dazu-
	        
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