Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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1649 — das Haupt seines Oheims, König Karls des 
Ersten von England auf dem Blutgerüst gefallen war 
In Kassel, wo der Pfalzzraf die Landgräfin Amalie 
Elisabeth begrüßen wollte, die in den Zeiten der Not 
am treusten und uneigennützigsten zu seinem Haus 
gehalten hatte, lernte Karl Ludwig die einuudzwanzig- 
järige Tochter der Landgräfin, Prinzessin Elisabet, ken 
nen und warb um deren Hand. Ein Jahr später 
fürte er sie in seine Residenz heim; aber das Glück 
und der Frieden der Ehe zog nicht mit ihnen ein in 
das schöne Heidelberg. Das fürstliche Paar lebte, 
woran der harte, stolze und weltluftige Sinn der Psalz- 
gräfin die Hauptschuld trug, in immer zunehmenden 
MiShelligkeiten, bis es endlich zu gänzlicher Trennung 
der Gatten kam. 
Aus dieser trübseligen und schmerzensreichen Ehe 
war eine Tochter entsprossen, die in ihrem Wesen 
nichts von der unharmonischen elterlichen Verbindung, 
welcher sie das Leben dankte, verriet, und die sich zu 
einer d r merkwürdigsten und vortrefflichsten Frauen 
ihrer Zeit entwickelte. Elisabeth Charlotte, oder wie 
sie ihr Vater und wie sie darach sich selbst lebens 
lang zu nennen pflegte, Liselotte, Prinzessin von der 
Pfalz, war im Mai 1652 geboren, brachte einen Teil 
ihrer Kindheit in Hannover bei ihrer Tante, der 
Kurfürstin Sophie, zu. lebte dann in Heidelberg und 
wurde später von ihrem Vater aus übd berechnten 
politischen Gründen an den ^Herzog von Orleans, 
den sittenlosen Bruder des damals allmächtigen Kö 
nigs von Frankreich, Ludwigs des Vierzehnten, ver 
heiratet. Liselotte trat in diese Ehe in kindlichem 
Gehorsam,aber milsehr widerstrebendem Herzen, Noch 
dreißig Jahre später schrieb sie aus Frankreich an 
ihre Schwester: "Unter uns gesagt, man hat mich 
wider meinen guten Willen hier hergesteckt." Im 
Jahre 1671 ging sie in die neue Heimat, die ihr 
niemals zur rechten Heimat werden konnte. Ihr Vater, 
an dem sie mit inniger Liebe hing, begleitete sie bis 
Straßburg. Als sie dort Abschied von ihm nahm, 
den sie so wenig als ihr teueres Vaterland wieder- 
stehen sollte, schied sie zugleich von dem ganzen reinen 
Glück ihrer harmlosen Jugend. Damals rief die 
Prinzessin in schmerzlicher Entsagung: „so bin ich renn 
das politische Lamm, das für den Staat und das 
Land soll geopfert werden; Gott gebe, daß es wol 
anschlage." 
Am französischen Hofe fand die junge Gattin Um 
gebungen und Sitten, die ihrer Natur und ihren 
Gewohnheiten gleich zuwider waren. Mit ihrem 
schlichten deutsche^ Wesen, ihrem ehrbaren, kräftigen 
und züchtigen Sinne stand sie inmitten eines ent 
nervten, schaun- und zuchtlosen Hofkreiseö, mit ihrer 
derben, gesunden Natürlichkeit inmitten eurer auf den 
leeren, blendenden Schein, auf Lug und Trug ge 
gründeten Gesellschaft. Da ist es nun eine Herzens 
freude, zu beobachten, wie dem deutschen Herzen alle 
feinen Künste französischer Höflichkeit nichts anhaben 
konnten, wie der gesunde Sinn eines ächtdeutschen 
Weibes in der giftigen Luft des Pariser und Ver 
sailler Hoflebeus sich frisch und kräftig bewahrte, 
wie ein Stück deutschen Lebens ein Menschenatter 
hindurch im undeutschesten Lande unverrümmert trotz 
aller Anfechtungen gediehen ist. 
Dies zu beobachten, geben die zahlreichen Briefe 
der Prinzessin nach Deutschland, die uns als ein wah 
rer Schatz erbalten sind, reichliche Gelegenheit. In 
ihrer Vereinsamung in der Fremde, wo nicht Eine 
Seele sie verstand und ihr nahe stand, war ihr ein 
reger Briefwechsel mit der Heimat ein Bedürfnis, 
das sie nach Herzenslust befriedigte. Sie fürte eine 
sehr flinke Feder und brachte, wie sie selbst erzält, 
ganze Tage, in ihr Cabinet eingeschlossen, mit Schrei 
ben und Lesen zu, so daß ihre Briefe, gesammelt, viele 
Bände füllen würden. Ein Teil davon ist gedruckt, und 
man kann kaum etwas lebendiger und munterer Geschrie 
benes lesen. Da plaudert Liselotte ihren Tanten, 
Schwestern und vielen andern bochgestellten Personen, 
ebenso aber auch ihrer alten Gouvernante in unge 
zwungenster Natürlichkeit und mit ächt rheinländischem 
Humor Alles vor, was ihr an Erlebnissen, Erinne 
rungen, Gedanken und Empfindungen durch Kopf und 
Herz geht; da schreibt sie sich ihr Heimweh und ihr 
Emsamkeitsgefül, ihren Zorn und Kummer über das 
liederliche Treiben um sie her und Alles, was sie sonst 
noch drückte und beklemmte, von der Seele, und nir 
gends begegnet bei ihr Gemachtem und Geschro 
benem; Alles ist gesunde Natur, unverwüstliches deur- 
sches Geistes- und Gemütsleben. > 
In diesen Briefen schildert die Prinzessin den 
ganzen Abgrund der Sittenverdsrbenhcit jener Zeiten 
und jener Kreise, in welchen sie zu leben verurteilt 
war, mit schonungslosen, starken Pinselstrichen, derb, 
natürlich und getreu, wie die niederländischen Maler 
damals zu malen pflegten. Sie selbst aber erscheint 
als das leibhaftige Gegenbild zu der Gesellschaft, die 
sie darstellt. Der Gegensatz zwischen der guten alten 
und der schlechten neuen Zeit, zwischen Natur und 
Unnatur, zwischen schlichter Wahrhaftigkeit und glän 
zender Lüge, aber auch zwischen deutschem Wesen 
und französischem Wesen ist kaum irgendwo schärfer 
und deutlicher wahrzunehmen, als in jenen Episteln. 
Sie hatte ein Recht, zu sagen, daß sie für Frank 
reich ein allzudeutscheS Herz habe. Denn nach einem 
mehr als dreißigjärigen Aufenthalt war sie dort noch 
fast ein Fremdling. Deutschland sei ihr, schrieb sie, 
viel lieber und ihrem Sinne angenehmer, weil es
	        
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