Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

„Willkommen Kriegskamerad! Seltsam, die Zie- 
thenschen finde» sich immer wieder, sie sind nicht zu 
trennen," sagte der General, ließ ihm zu essen und 
zu trinken geben, befahl ihm aber zugleich, noch 
heute wieder beim Regimente einzutreten. 
Der Bettler war nämlich, während die Schild 
wacht links vom Schilderhause auf- und abging, von 
der rechten Seile in's Haus gegangen und so nicht 
bemerkt worden. 
Ziethen ließ die Schildwache ablöten und sich 
vorführen, indem er sie mit den Worten empfing: 
' „Warum hat Er den Bettler hier nicht hereinlassen 
wollen, da er Nachrichten von Wichtigkeit hat. Kennt 
Cr meinen Befehl nicht?" 
Die Schildwacht (auch ein Ziethenscher), die den 
Bettler gar nicht bemerkt hatte, viel weniger ihm 
den Eintritt verweigert haben konnte, erkannte augen 
blicklich einen Kameraden in ihm und sagte: „I, wo 
ist das ein Bettler? das ist ein Ziethenscher, und 
wenn ich dem auch den Eintritt verweigert hätte, 
der wäre doch zu seinem General gekommen, und hätte 
er über's Dach durch den Schornstein steigen sollen!" 
Diese Antwort rettete die Schildwache' vom 
Gassenlaufcn, und Ziethen sagte lachend: 
„Marschirt ihr Spitzbuben zum — — — ich 
muß schlafen!" _ 
Der Pfingftheiligabend. 
An dem geöffneten Fenster faß Frau Margareth 
und blickte nachdenklich in das Dämmerlicht des 
Pstngstabends hinaus. Eine erfrischende uühle hatte 
sich in dem kleinen, traulichen Gemach verbreitet. 
Leise flüsternd spielte der Abendwind in den jungen, 
saftigen Blättern des Weinstocks, welcher seine 
Zweige um das Fenster rankte, und trug von Zeit 
zu Zeit einzelne Akkorde von Nachtigallenstimmcn 
von dem nahen Walde herüber, leise und klagend, 
wie sie in lauen Maiennächten zu ertönen pflegen. 
Rings umher herrschte eine ernste, heilige Stille; 
in ihrer einfachen Erhabenheit lud die Ratur zur 
Borbercitung auf den Festtag ein. Das eintönige 
Läuten der Kirchenglocke mahnte die Bewohner des 
Dörfchens, den Gang ins Gotteshaus am folgenden 
Biorgen nicht zu versäumen. 
Frau Margareth war die Witwe des verstorbe 
nen Schullehrers. Seit dem Tode ihres Mannes 
hatte sie von dem Ertrage ihres kleinen Grund 
stückes und von den Unterstützungtzn gelebt, welche 
ihr ein in weiter Ferne lebender Sohn zufließen ließ. 
Edmund war ihre einzige Freude, ihr Stolz. Lange 
vielleicht schon wäre sie dem Gatten in die Ewigkeit 
hinüber gefolgt, nur der Gedanke an den Sohn hielt 
sie noch aufrecht. Still und von aller Welt geschie 
den, lebte sie in ihrem Häuschen. Die langen pein 
lichen Wintertage verbrachte sie am Spinnrade oder 
mit dem Lesen einiger Bücher beschäftigt, welche ihr 
Edmund im erst?« Jahre seiner Abwesenheit als 
Gcburtstagsangebinde geschickt hatte. Es waren 
Krunttnachers Parabeln. Kehrte der Frühling wie 
der, so war es ihre einzige Erholung, sich an das 
geöffnete Fenster zu setzen, und Stunden lang in 
die Nacht hinaus zu blicken, mit ihren Gedanken bei 
dem Geliebten weilend, bis endlich die hell flim 
mernden Sterne sie mahnten, die Ruhe zu suchen, 
welche ihr in freundlichen Träumen sein Bild vor 
Augen zauberten. 
So saß sie auch heute sinnend in der lauen 
Abendluft. Sie gedachte der Tage, wo ihr der 
Sohn zur Seite gewesen und in traulichem Gespräch 
die Zeit verkürzt, oder sie durch Gesang erheitert 
hatte, welchen er mit einfachen Akkorden auf einer 
Harfe zu begleiten pflegte. Jetzt hing diese bestäubt, 
unbenutzt an der Wand. 
Längst war die Sonne niedergesunken; der Mond 
stand hell am Himmel und strahlte milden Glanz 
in das Zimmer, gerade auf die Stelle, wo Edmunds 
Harfe hing. Die Schönheit des Abends, der bal 
samische Duft der Blüthen, welche auf den Kasta- 
'nienbäumen in voller Pracht prangten, die Feier 
lichkeit des Festabends senkten eine lange nicht 
empfundene Weh-nuth in Margareth's Herz. 
„Drei Jahre gerade," sprach sie leise vor sich 
hin und faltete die Hände wie zum stillen Gebet — 
„vor drei Jahren am Pfingstbciligabend nahm er 
Abschied von mir, um in die weite Welt hinauszu 
wandern. Dreimal seitdem sah ich die Rosen knos 
pen und wieder verblühen, und jedes Jahr, glaubte 
ich, würde ihn mir zurückbringen. — Jetzt wiederum 
grünen sie ihrer Blüthezeit entgegen zum letzten 
Male, — wenn sie verblüht sind, ist mir wohl — 
recht wohl — im kühlen Grabe — —" 
Sie schwieg. Ein Paar einzelne Thränen stahlen 
sich aus ihren Augen; aber mit seligem Lächeln blickte 
sie zum Himmel. Der Mond strahlte in ihr verklärtes 
Antlitz, in die in wehmüthiger Freude leuchtenden Augen. 
Lange Zeit saß sie so da, verklärt vom Heiligen- 
scheine der Glückseligkeit. 
„Mein Gott, mein Gott," sprach sie endlich mit 
leiser Stimme, „ist meine Stunde so nahe? O, nur noch 
ein einziges Mal möchte ich die lieben Töne hören!"
	        
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