Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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hält sie mit beiden Händen zu, und reißt sie dann 
noch einmal so groß auf, um auf einen Punkt 
hinznstarren. — Ist eS ein Traum? — er schlägt 
sich mit beiden Fäusten gegen die Lenden, damit 
er sich von seinem Wachen überzeuge: — da 
hängt sie, die Heißersehnte! — von der Lehne eines 
in die Mitte des Zimmers geschobenen Stuhles 
lächelt sie ihm entgegen, — ja, sie ist es, die ihm 
so viel Lust und Schmerz bereitet, — sie ist es, nach 
der sein zagendes Herz gebangt: — die herrliche 
Neunthalerweste! — 
„Frau! — Gattin! — Engel! — Geliebte!" 
stammelt er, — dann sinkt er in sprachlosem Ent 
zücken der Freudenspenderin um den Hals. 
„O, es war eine schöne Minute, wie sie sich um 
schlungen hielten, und W. die von Freudenthränen 
feuchten Augen an der edlen Gattin Schulter barg. 
„Es ist zu viel, zu viel^" jauchzte er dann, wie 
der Athem gewinnend. — „Aber," fuhr er, einmal 
in Extase fort, „Deine Großmuth soll mich nicht 
beschämen. Auch Du nährst einen Wunsch, — es 
koste, was es wolle, er soll —" 
Hier mußte ihm seine Uebereilung doch wohl 
einfallen: er brach plötzlich ab, und wollte zu etwas 
Anderm übergehen, aber Madame fiel schnell ein: 
„Daran habe ich nicht gedacht, mein guter Hiero 
nymus, - ich wollte Dir nur eine Freude machen: 
indessen will ich sehen, ob Du Wort halten wirst." 
Den guten Hieronymus durchzuckte eine etwas 
bittere Empfindung; er sah ein, er hatte sich durch 
die übermäßige Freude zu einer in seinen Augen 
großartigen Thorheit hinreißen lassen. 
Bis zum Weihnachtsfeste hin fand sich manche 
Gelegenheit für Frau W-, den Gatten, jedoch 
immer nur im Scherz, an sein, wenn auch nur hglb 
ausgesprochenes Versprechen zu erinnern. Er ge 
wann am Ende die lleberzeugung, es werde ihm 
wohl Alles nichts helfen, — er müsse, so schwer 
es auch sei, in den sauren Apfel beißen. Mit bangem 
Herzklopfen sah er das Weihnachtsfest immer näher 
rücken, — er mußte den Kasten aufziehen, in wel 
chem die Scheinchen lagen, noch ein kurzer, schreck 
licher Kampf — der Streich fiel — es war ge 
schehen — der Kaufmann hatte die Scheinchen, — 
W. hielt das dafür erstandene Tuch, — ach, es 
war sehr theuer! — in der zitternden Hand. 
Er zitterte auch, als er es der Gattin am Weih 
nachtsabende überreichte; — er redete sich selbst ein, 
es sei die Freude, des lieben Weibes Wunsch er 
füllt zu sehen, die ihn zittern mache. — Frau W. 
zitterte nicht; sie sprang jubelnd umher, indessen W. 
seufzend zu sich selber sprach: „Es ist einmal geschehen!" 
Der Neujahrtag war da, mit ihm eine arge 
Plage für den sparsamen W.: das Heer der Gra 
tulanten. Nach manchem Stoßseufzer waren die 
zu diesem Behuf eingewechselten Zweigroschenstücke 
verausgabt, Nachtwächter, Schornsteinfeger und was 
sonst noch seinen Glückwunsch dargebracht, waren 
abgefertigt. auch ber Barbier hatte das einmal her 
gebrachte Douceur in Empfang genommen, und tief 
aufathmend überließ sich der geplagte Gratulations 
empfänger der Hoffnung, man habe ihm nun Glück 
genug gewünscht, daß er endlich das Glück haben 
werde, mit weiteren Gratulationen unbehelligt zu 
bleiben. — Aber — ES klopft. „Hat der 
Kuckuck doch noch Einen? -- — Herein!" ruft W. 
sehr verdrießlich. 
Nein, es ist keiner der gewöhnlichen Gratulan 
ten, es ist Meister Chr. Bündelbund, der Schnei 
der, — oder vielmehr Chr. Bundelbound, Tailleur 
de Paris, — der Paris zwar zur Zeit noch nicht 
gesehen, jedoch seinen ältesten Sohn gewiß dahin 
schicken wird, sobald er in der Lotterie gewonnen hat. 
„Ei was führt Sie denn zu mir?" frägt W- 
mit einem freundlichern Gesicht; als es die Gratu 
lanten gesehen. 
„Ich wollte doch nicht verfehlen, Ihnen, mein 
verehrter Gönner, meine ganz ergebenste Gratu 
lation zum neuen Jahre darzubringen und den 
Wunsch auszusprechen, daß es mir noch viele Jahre 
vergönnt sein möge. Ihrem, sich der. besten Gesund 
heit erfreuenden Leibe das Beste und Geschmackvollste, 
was die Pariser Journale uns vorschreiben, anzu 
passen." . 
„Danke, danke, Lieber!" entgegnete W. sehr 
freundlich; er hörte es gern, wenn man ihm ein 
langes Leben wünschte, — besonders, wenn er nicht 
dafür zu bezahlen brauchte, — denn er hatte eine 
erstaunliche Angst vor dem Tode. 
„Gleichzeitig kann ich nicht unterlassen, Ihnen die 
ergebenste Anzeige zu machen, daß mich meine Fran 
in dieser Nacht mit einem kleinen Töchterchen be 
schenkt hat," — fuhr der Tailleur de Paris fort. 
„Ei, sieh da! gratulire, gratulire!" sprach W- 
„Mutter und Kind sind doch wohl?" 
„Den Umständen nach recht wohl, Gottlob!" er 
wiederte der Tailleur, „aber" — fuhr er fort, „Sie 
werden wissen, verehrter Herr W., dergleichen Be 
gebenheiten verursachen immer einige Störung, -"7 
und da befinde ich mich denn nicht ganz wohl dabei-
	        
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