Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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einer andern Weise ans den Hund oder auf die Katze 
gebracht werden mögen — das sind Fragen, auf 
welche der Kalendererzähler nicht einmal mit einer 
schüchternen Vermuthung zu antworten wagt. Denn 
mit den Herren Gelehrten, die über solche Fragen 
zu entscheiden haben, ist nicht zu spaßen. 
Ein Zeugniß. 
In der Stadt Dresden trat vor einigen Jahren 
an einem kalten Novembertage ein Junge, dem 
Hunger und Kummer ihre trübseligen Wahrzeichen 
in's Gesicht gegraben hatten, in den Laden eines 
Mannes, der mit musikalischen Instrumenten handelt. 
Ich bin aus dem Erzgebirge, sagte der Kleine, indem 
er etwas aus einem Tuche wickelte, und will Euch 
eine Violine verkaufen. Ich habe sie selbst gebaut. 
Der Händler betrachtete das Ding; es war sauber 
und hübsch gearbeitet. Ich will sie Dir wohl ab 
nehmen, sagte er; aber Katzen im Sack kauf' ich nicht. 
Du mußt mir's schriftlich bringen von einem, der's 
versteht, daß die Geige auch gut ist. 
Der Kalenderleser weiß vielleicht nicht, daß man 
einer Violine nicht von außen ansehen kann, ob die 
Töne, die in ihr gefangen gehalten sind, lieblich und 
voll erklingen, oder heiser und dünn. Auch ein Mann, 
der Jahr aus Jahr ein mit Geigen handelt, kann 
darum so einem Instrument vom bloßen Besehen, 
oder auch wenn er mit dem Bogen drauf herum 
streicht, noch nicht abmerken, ob es was Rechtes werth 
sei. Es ist eine wunderliche Sache um ein solches 
Saitenspiel. Nur der Meister, der aus ihm alle 
kräftigsten und zartesten Töne zu locken und seine 
geheime Seele gesprächig zu machen versteht, vermag 
zu bestimmen, wie köstlich, oder wie gering sein Werth 
ist. Eine Geige sieht der" andern fast so ähnlich 
wie ein Blatt am Baum dem andern, und doch wird 
die eine hundertmal höher als die andere bezahlt. 
Die besten kamen ehedem aus Cremona in Italien, 
und der Erzähler hat ihrer gesehen und gehört, die 
Jahrhunderte alt und für Tausende von Thalern 
gekauft waren. 
Darum verlangte der Instrumentenmacher ein 
schriftliches Zeugniß von einem Sachverständigen und 
beschick den Jungen, wo er einen solchen finden 
könne. Da drüben um die Ecke gerad aus in dem 
hohen Hause wohnt der Herr Musikdircctor So und 
So, den laß deine Geige probiren, und wenn er Dir 
aufgeschrieben hat, was sie werth ist, kannst Du 
wiederkommen. 
Der Musikdirector hatte eben Gäste zu Besuch, und 
da er den kleinen Bittsteller möglichst bald los werden 
wollte und als ein gutherziger Mensch mit den 
kümmerlichen Hungermienen des armen Jungen 
Mitleid hatte, prüfte er die Geige nicht weiter als 
mit den Augen und stellte alsbald ein schönes Attest 
aus, in welchem zu lesen war, daß das Instrument 
vorzüglich gut und mit hundert Thalern nicht zu 
hoch bezahlt sei. 
Als aber der kleine Geigenbauer mit freude 
strahlenden Augen wieder zu dem Händler kam, war 
dem doch der Preis zu hoch, und das allzu flink 
herbeigebrachte Zeugniß ein wenig verdächtig. Weißt 
du was, mein Sohn, sagte er, mir ist deine Violine 
zu theuer; aber in der Schloßstraße Nummer so und 
so viel, da wohnt eine Frau, die hält etwas auf den 
Herrn Musikdirector; wer weiß, so kauft sie dir 
deine Geige ab. Denn der Schalk wußte, daß die 
reiche Bierbrauerswitwe, die in der Schloßstraße 
wohnte, mit dem Musikdirector ein Liebesverhältmß 
hatte, und weil sie einige Tage vorher eine Violine 
in dem Laden des Instrumentenmachers hatte kaufen 
wollen (es war aber keine vorräthig gewesen), st 
schickte der Mann nun den kleinen Quälgeist der ver 
liebten Witwe auf den Hals. 
Die Frau 1, da sie des Jungen Anliegen ver 
nommen und das lobpreisende Zeugniß ihres Galans 
gelesen hatte, dachte bei- sich: besser konnte es ja 
nicht kommen; jetzt hab' ich mein Christkind, die 
Geige, und obendrein schwarz auf weiß, daß sie gut 
ist, von dem, der sie haben soll. Also zahlte sie dein 
Kleinen die hundert 'Thaler, und er wanderte vergnügt 
wie ein Haidlerch ob dem Gelde, dessen er noch 
niemals so viel beisammen gesehen, heim in's 
Erzgebirge. 
Am heiligen Christabend aber, als der Musik 
director, der inzwischen erklärter Bräutigam der 
Brauerswitwe geworden war, von seiner Braut in 
das Zimmer geführt wurde, wo der grüne Tannen 
baum im Lichterschmuck brannte, und als seine Augen 
das Geschenk höchst neugierig suchten, womit seine reiche 
Frau Liebste ihn überrascht habe, da hing an einem 
Ast des Christbaums eine Geige und an einem ander» 
ein Blatt Papier. 
Dem Herrn Musikdirector flimmerte es etwas 
vor den Augen, als er das Blatt betrachtete. Es 
war das Zeugniß, das er selbst geschrieben. Die 
Violine aber, wie er sie nachträglich probirte, taugte 
sehr wenig.
	        
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