Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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Unterhaltendes und Belehrendes. 
Heute. 
Ich stehe an einem Bach und schaue in die 
Wellen, wie sie zittern und wie sie rennen, schnell 
fortzukommen, und ich schaue mit den Gedanken 
noch weiter, als die Augen reichen, dem Wasser 
nach. — Wo gehst Du hin, kleine Welle und wo 
kommst Du her? Sie ist am Gebirg droben geron 
nen aus moosiger Quelle und ist ungesehen wild 
abgestürzt vom Felsgestein, und wie in Schweiß 
gekommen schäumt und schnauft sie noch eine Zeit 
lang int engen Thal und fließt dann besänftigt 
durch schone, weite Ebenen. Jetzt glänzt das Wasser 
flöckchen im Sonnenschein, und nachher versinkt es 
int Schatten von Weidengebüsch, und sechs Stunden 
später leuchtet es wie ein mildes Flämmchen, röth- 
lich und goldig im Abendroth. Die Sonne sinkt; 
aber die Welle wellt fort, bald stahlgrau und dunkel, 
bald weißblau im Mondschein, oder geht unter in 
schwarzer Nacht. 
So geht eö mehrnial fort, und zuletzt stürzt das 
Wassertröpfchen in einen Fluß oder Strom und wird 
hmuntergeschwemmt ins Meer. Aber so groß und 
unergründlich das Meer auch ist, die kleine Welle 
versäuft nicht darin und geht nicht verloren und es 
giebt ein Auge, das jedem Tropfen im Meere nach 
kommt, woraus jene Wette zusammengesetzt ist. 
Man kann oft in Büchern lesen, die Zeit sei 
wie ein Fluß und die Ewigkeit wie ein unendliches 
Meer. Nun denn, ein Tag im Menschenleben, ein 
Heute ist grade so wie eine kleine Welle, die im 
Dache schwimmt und sich hebt und glänzt und 
wieder versinkt. 
Es quillt der Tag hervor aus der Nacht und 
dem Schlaf, glitzert und zittert eine Weile an der 
Helle und sinkt wieder hinab in die»Nacht und den 
Schlaf. So ein Tag ist eine Spanne Zeit, ein 
Schritt, ein Pendelschlag, ein Ruck vorwärts. Jeder 
l^ag ist eingeklemmt zwischen zwei Nächten; ein Tag 
kommt dem Alten zuletzt noch vor, wie wenn man im 
Finstern Feuer schlägt, wie wenn es in der Nacht blitzt. 
O Mensch, Du kannst die Uhr still stehen 
Aachen, aber nicht die Zeit und nicht Dein Heute. 
Sie Gelehrten sagen: Die Erde mit Allem, was 
oarauf ist, jage schneller im Weltraum fort, als 
«ne losgeschossene Büchsenkugel, ohne daß wir es 
lehen. Das ist das stille Jagen, der stille Sturm 
k'vr Zeit. Laß Dein Leben nicht darin zerbröckeln 
und zerstäuben in verdorbene, nutzlos verlebte Tage. 
Du bist nur Herr und Eigenthümer des heutigen 
Tages; die vergangenen Tage sind unauslöschlich 
eingeätzt im Buch Deines Lebens, und vielleicht 
kommt bald das letzte Blatt, Dein letzter Tag; 
und ddr Sarg, in den sie Dich legen, ist der Ge 
dankenstrich zu Deinem verflossenen Erdenleben; 
dann nagelt der Schreiner noch den eisernen Schluß- 
punkt hinein; der Todtengräber aber wirst den 
Streusand über Dich hin mit seiner Schaufel. Gott 
behüte Dich! 
Was eine Billion heißen will. 
Ein Handluugsreisender, einer von denen, welche 
regelmäßig schweigen, wenn sie schlafen oder essen, 
und welche im Linksmachen der Wahrheit es dem 
seligen Münchhausen an Dreistigkeit gleich thun, 
aber nicht an Geschicklichkeit, sitzt am Wirthshaus- 
tisch und erzählt von seinen Reisen in Rußland. In 
Petersburg, sagt er, giebt es eine Straße, darin 
würde ein Millionär ein Lump sein; denn es wohnt 
darin fast kein Familienvater, der nicht mindestens 
eine Billion im Vermögen hat. 
Das geht an, bemerkt trocken ein Mann, der 
bisher still dabei gesessen hat und wie ein lebendiges 
Rechenexempel aussieht. Im übrigen Europa giebt 
.es keine Billionäre, in Rußland werden sie wol 
besseren Boden hq,ben. Bei uns zu Lande sind die 
Leute auch zu kurzlebig um ihre Billion, wenn sie 
eine hätten, zählen zu können. In Rußland bei der 
großen Kälte mögen sie sich dagegen länger halten. 
Wie meinen Sie das? fragt der Handlungs 
reisende etwas verblüfft. 
Ich meine, erwidert der Andere, daß Sie, wenn 
Sie heute einen der Familienväter aus der Peters 
burger Billiouenstraße beerbten, Zeit Ihres Lebens 
nicht fertig bekämen, Ihr Erbtheil zu zählen. 
Lächerlich! Mit Louisdors getrau' ich mir eine 
Billion (hätt' ich sie nur!) innerhalb einer Woche 
bequem abzuzählen, denn ich habe im Geldzählen — 
für And're — Uebung und zähle in jeder Minute 
hundert Goldfüchse, wenn's verlangt wird. 
Ganz gut, entgegnet mit türkischer Gelassenheit 
das Rechenexempel. Ich will Ihnen meinethalben 
gestatten, die Summe in Goldstücken zu je kl) Thalern 
im Werth zu zählen. Und nun will ich Ihnen vor- 
4'
	        
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