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nennen sann, weil ich ihn selbst nicht weiß. Das
gibt wunderliche Gedanken in den Sinn über die
Gerechtigkeit in der Vertheilnng von Berühmtheit
»nd Ehren in dieser Welt!
An einem Maimorgen des Jahres 1861 war zu
Stettin an der Oder auf der Eisenbahn von Star-
gardt her ein Güterzug eingetroffen, der eine gewaltige
Last Getraide trug. Wegen seines schweren Gewichtes
hatte er zwei Locomotiven mit sich, eine wie gewöhn
lich an der Spitze, die andere am Ende angehängt,
die von hinten her hatte schiebe» müssen. Der Führer
dieser letzteren Locomotive, wie er eben sein schnau
bendes Feuerroß hat von den Getraidewagen loshalf
tern lassen und in den Stall bringen will, sieht
Plötzlich in der Ferne Dampf aufwirbeln und erkennt,
daß der Personenzug, der vou Rechtswegen erst eine
Weile später von Stargardt einzutreffen hat, schon
jetzt nahet. Ein Schauer des Entsetzens läuft dem
Loeomotivführer über den Leib. Denn er weiß, daß
die Schienenstränge für den Güterzug in der Richtung
»ach der so eben geöffneten Eisenbahnbrücke der Oder
hm gestellt sind, und daß der Weichensteller auf dem
Stettiner Bahnhof in gutem Glauben, der Personen-
zug komme noch nicht, sich von seinem Posten entfernt
hat. Wie ein fahler Blitz zuckt durch die Seele
unseres Loeomotivführers der Gedanke: Fährt der
ankommende Zug in den geöffneten Schienenstrang
ein, so muß er auf den stehenden Güterzug treffen
und ihn vor sich herjagend mit Mann und Maus in
die nahe Oder stürzen. Es gibt, so sagt er sich weiter
>» Gedankenschnelle und mit wunderbarer Geistes
gegenwart, in der gräßlichen Gefahr, die jetzt vielleicht
Hunderte von Menschenleben bedroht, nur ein einziges
Mittel, das Schlimmste zu verhüten. Wenn du mit
deiner Locomotive in voller Gewalt dem kommenden
chig entgegenfährst, so ist es möglich, durch den An
prall ihn in seinem Laufe zu hemmen und eine Strecke
»nrückzntreiben, daß so viel Zeit für die Bremser
drüben gewonnen wird, ihn fest zu stellen. Zwar es
Mrd vermuthlich dir und deinem College» auf der
Leeomotive des Personenzugö das Leben Josten und
den Passagieren in den Waggons etwelches Kops- und
Gliederweh verursachen. Aber besser, zwei oder drei
gehen zu Grunde als ein paar hundert, unter denen
vielleicht Väter und Mütter sind, die ihren Kleinen
"ech noth thun.
Wie gedacht, so gethan. Der entschlossene Man»
spannt mit einem Ruck am Hahn die- Kraft der
Dampfe in seinem Kessel auf's Höchste und fährt mit
^turmeseile dem heranbrausenden Zug entgegen. Ein
fürchterlicher Zusammenstoß erfolgt; die Locomotive
unserers Führers hat die größere Gewalt; sie treibt
den begegnenden Zug eine ganze Strecke weit zurück,
wird selbst zwar in Folge des Stoßes mächtig rück
wärts geschleudert, daß sie auf die Getraidewagen
prallt und die drei vordersten derselben (die Locomo
tive an der Spitze des Güterzugs war schon entfernt)
in die Oder jagt, während die übrigen an den Pfeilern
der geöffneten Brücke hängen bleiben; aber der Haupt
zweck ist erreicht; der Personenzug ist von den unver
sehrt gebliebenen Bremsern der hintern Wagen, nach
dem sie sich von der ersten Bestürzung erholt, zum
Stehen gebracht.
Unser Held liegt mit gebrochenen Beinen und im
Leibe schwer verletzt vor dem Kessel seiner zertrüm
merten Locomotive. Rasch herbeigeschaffte ärztliche
Hülfe hat ihm zwar das Leben gesichert, aber ein
verkrüppeltes, elendes Leben. Glücklicher sind der
Führer und der Heizer auf der Locomotive des Per
sonenzugs weggekommen. In wunderbarer Weise
blieben sie fast unverletzt, und auch bei den Insassen
der arg beschädigten Personenwagen ist's, abgesehen
vom Schrecken, mit Beulen und Quetschungen Ein
zelner abgegangen.
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Wenn ich überlege, welche von den beiden Thaten
die größere war und mehr Entschlossenheit und Opfer
muth erforderte, die des Schweizers Winkelried,
der in der Hitze und dem Getümmel der Schlacht,
in der Aufregung des Kampfes gegen den Unter
jocher, begeistert für die Unabhängigkeit seines Volkes
und wohl auch in zuversichtlicher Hoffnung auf unver
gänglichen Nachruhm die Feindeslanzen, welche ihm
ohnehin wahrscheinlichen Tod drohet'en, in seiner Brust
begrub, der '»Freiheit eine Gasse« zu bahnen;, oder
des Mannes auf der Locomotive zu Stettin, der
durch' einen gefahrlosen Sprung sich in Sicherheit zu
bringen nicht nur die Gelegenheit, sondern auch das
volle Recht hatte, der es aber vorzog, sein Leben
und seine gesunden Glieder zu wagen für Leute, die
er gar nicht kannte, die seinem HMen nicht durch
andere Bande verbunden waren als durch die, welche
demMeiffchen an den edlen Menschen binden in heiliger
Nächstenliebe, — wenn ich das überlege und mich frage,
welche von jenen beiden schönen Handlungen die
schönere war, und welcher Held der größere, der mit
Rnhm, oder der ohne Ruhm — so weiß ich ohne
Bedenken, für wen ich mich entscheide. e.j.