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steril noch allein im elterlichen Hause zurückgeblieben
war, den Zorn des fremden Kriegsvolkes erfahren.
Das mochte auch wohl die Mutter ahnen; denn sie
hatte ihn fest an sich gedrückt und hielt ihn mit bei
den Händen umfaßt.
„Greift den da«, herrschte der Anführer seinen
Soldaten zu und zeigte auf den Knaben, „er soll uns
vorerst den Schimpf bezahlen, der mir und euch wider
fahre» ist, und bleibt so lange in unserer Gewalt,
bis der Alte sich stellt."
„Das werdet Ihr nicht thun, Herr,« bat die
Mutter voll Angst, «werdet nicht so unbarmherzig
gegen Schwache und Hülflose sein! Was kann der
unschuldige Knabe für das, was der Vater gethan
hat?«
Aber man kehrte sich nicht an ihre Angst und
sollte mit Gewalt ihr den Knaben entreißen.
"Nein, und abermals nein,« rief sie mit lauter
Stimme und wehrte mit erhobenem Arm die Angrei
fenden ab, «ich gebe ihn nicht. Der Vater, das
v>eiß ich, hat Euch nicht aus Eigensinn den Schlüße!
verweigert, sondern hat gehandelt nach Recht und
vas seines Amtes war. Und Gott, dessen Haus er
in Schutz genommen hat, wird es nicht zugeben,
baß man dem Sohn dafür ein Haar krümmt.«
Aber die bärtigen Reiter schämten sich nicht, das
wehrlose Kind vor den Augen der Mutter zu binden
und mit sich fortzuführen.
, „Herr Gott, himmlischer Vater!" rief schluchzend
bw geängstete Frau, daß es einem ins Herz schnitt,
">>t denn Niemand da, der mir beisteht, kein Nach
var bereit, deS Kindes sich anzunehmen!« Doch bald
bsfnete sich ihr Herz dem Vertrauen zu dem, dessen
«rm stärker ist, als alle Gewalt auf Erden; sie fiel
auf ihre Kniee und betete.
Während dies im Schulhause sich zutrug, schritt
ber Vater des Knaben durch den dichten, dunkeln
^ald auf abgelegenen, aber doch ihm bekannten Pfa-
ben in Hast und Eile dahin, bis er aus dem Gehölz
auf eine lichte Wiese trat. Hier gönnte er sich nach
einer Stunde angestrengten Marsches einige Rast,
um wieder zu Athem zu kommen und sich den Schweiß
von der nassen Stirn zu trocknen. Durch den Wie-
llugrund plätscherte ein munterer Bach, dessen Wellen
bas Räderwerk der Buschmühle trieben, die einsam
gsiegen und hinter Erlengebüsch versteckt ihm für
mv Nacht einen sicheren Aufenthalt bot. Er kannte
en Müller, aber was mußte der denken, wenn er
vaarhäuptig und in kurzer Jacke so zur Nachtzeit ihm
ms Haus trat. Doch die Voraussicht, bei weiterer
Wanderung vielleicht verfolgt und entdeckt zu werden
oder bei der feuchten Nachtluft im Freien zubringen
zu müßen, siegte über seine Bedenken und trieb ihn,
das gastliche Dach der Mühle zu suchen. Und wie
er dem Müller den Grund seiner nächtlichen Fahrt
ohne Rückhalt erzählte, schüttelte ihm dieser freundlich
die Hand und sagte ihm Schutz und Verschwiegenheit
zu. Auch sorgte er ihm für ein stärkendes Mahl und
ein warmes Bett. Aber hätte der Flüchtling gewußt,
was für Jammer inzwischen in sein HauS eingekehrt
fei und daß der Sohn um seinetwillen an dem Biwacht-
feuer der französischen Reiter gefesselt liege, eö hätte
ihn nicht gehalten in seinem Versteck, und er wäre
herbei geeilt, alles aufzubieten zur Befreiung des
unschuldigen Knaben.
Die fremden Gäste suchten sich und ihre Pferde,
so gut es gehen wollte, für die Nacht auf dem Kirch
hofe unterzubringen. Sie scheuten sich doch, das
Gotteshaus mit Gewalt zu öffnen und fürchteten die
wachsende Erbitterung der Dorfbewohner. Denn die
schnell sich verbreitende Kunde, daß der geliebte Lehrer
flüchtig sei, daß der Sohn wider alles Recht gefan
gen gehalten werde und die Mutter außer sich sei
vor Schmerz und Leid, hatte eine gewaltige Aufre
gung im ganzen Dorfe hervorgerufen. Aber der kom
mende Morgen sollte noch Schlimmeres bringen. Statt
den Gefeßelten frei zu geben und sich an der Angst
der verstörten Familie genügen zu laßen, schleppten
die Reiter den vor Frost und innerer Erregung zit
ternden Knaben beim Grauen des Tages mit sich fort,
und vor den Soldaten in Reih und Glied, vor den
gezogenen Pallaschen und den geladenen Karabinern
senkte sich jeder Arm, der im Zorn sich wider den
unbarmherzigen Feind erhoben hatte, erstarb jeder
Schrei der Entrüstung, jeder Ruf nach Hülfe auf den
Lippen der entsetzten Bewohner. Und die Mutter
durfte ihr Kind nicht noch einmal sehen, nicht noch
einmal warm und innig an das Herz drücken. In
unendlichem Schmerz brach sie zusammen, starr lag
sie da, als hielt der Tod sie umfangen.
„Nein, das geht nicht, Adain,« sprach beim Auf
bruch der französischen Reiter der Besitzer des Meier
hofes, ein wackerer und beherzter Mann, zu seinem
Nachbar, dem Gemeindewirth, «daß wir das wehr
lose Kind in der Gewalt des fremden Volkes laßen.
Wir müßten uns ja unser Lebtag vor uns selber
schämen und dürften dem Schulineister und seiner
Frau nicht wieder unter die Augen treten, wollten
wir so ruhig zusehen und die Hände in den Schoß
legen.«
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