Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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steril noch allein im elterlichen Hause zurückgeblieben 
war, den Zorn des fremden Kriegsvolkes erfahren. 
Das mochte auch wohl die Mutter ahnen; denn sie 
hatte ihn fest an sich gedrückt und hielt ihn mit bei 
den Händen umfaßt. 
„Greift den da«, herrschte der Anführer seinen 
Soldaten zu und zeigte auf den Knaben, „er soll uns 
vorerst den Schimpf bezahlen, der mir und euch wider 
fahre» ist, und bleibt so lange in unserer Gewalt, 
bis der Alte sich stellt." 
„Das werdet Ihr nicht thun, Herr,« bat die 
Mutter voll Angst, «werdet nicht so unbarmherzig 
gegen Schwache und Hülflose sein! Was kann der 
unschuldige Knabe für das, was der Vater gethan 
hat?« 
Aber man kehrte sich nicht an ihre Angst und 
sollte mit Gewalt ihr den Knaben entreißen. 
"Nein, und abermals nein,« rief sie mit lauter 
Stimme und wehrte mit erhobenem Arm die Angrei 
fenden ab, «ich gebe ihn nicht. Der Vater, das 
v>eiß ich, hat Euch nicht aus Eigensinn den Schlüße! 
verweigert, sondern hat gehandelt nach Recht und 
vas seines Amtes war. Und Gott, dessen Haus er 
in Schutz genommen hat, wird es nicht zugeben, 
baß man dem Sohn dafür ein Haar krümmt.« 
Aber die bärtigen Reiter schämten sich nicht, das 
wehrlose Kind vor den Augen der Mutter zu binden 
und mit sich fortzuführen. 
, „Herr Gott, himmlischer Vater!" rief schluchzend 
bw geängstete Frau, daß es einem ins Herz schnitt, 
">>t denn Niemand da, der mir beisteht, kein Nach 
var bereit, deS Kindes sich anzunehmen!« Doch bald 
bsfnete sich ihr Herz dem Vertrauen zu dem, dessen 
«rm stärker ist, als alle Gewalt auf Erden; sie fiel 
auf ihre Kniee und betete. 
Während dies im Schulhause sich zutrug, schritt 
ber Vater des Knaben durch den dichten, dunkeln 
^ald auf abgelegenen, aber doch ihm bekannten Pfa- 
ben in Hast und Eile dahin, bis er aus dem Gehölz 
auf eine lichte Wiese trat. Hier gönnte er sich nach 
einer Stunde angestrengten Marsches einige Rast, 
um wieder zu Athem zu kommen und sich den Schweiß 
von der nassen Stirn zu trocknen. Durch den Wie- 
llugrund plätscherte ein munterer Bach, dessen Wellen 
bas Räderwerk der Buschmühle trieben, die einsam 
gsiegen und hinter Erlengebüsch versteckt ihm für 
mv Nacht einen sicheren Aufenthalt bot. Er kannte 
en Müller, aber was mußte der denken, wenn er 
vaarhäuptig und in kurzer Jacke so zur Nachtzeit ihm 
ms Haus trat. Doch die Voraussicht, bei weiterer 
Wanderung vielleicht verfolgt und entdeckt zu werden 
oder bei der feuchten Nachtluft im Freien zubringen 
zu müßen, siegte über seine Bedenken und trieb ihn, 
das gastliche Dach der Mühle zu suchen. Und wie 
er dem Müller den Grund seiner nächtlichen Fahrt 
ohne Rückhalt erzählte, schüttelte ihm dieser freundlich 
die Hand und sagte ihm Schutz und Verschwiegenheit 
zu. Auch sorgte er ihm für ein stärkendes Mahl und 
ein warmes Bett. Aber hätte der Flüchtling gewußt, 
was für Jammer inzwischen in sein HauS eingekehrt 
fei und daß der Sohn um seinetwillen an dem Biwacht- 
feuer der französischen Reiter gefesselt liege, eö hätte 
ihn nicht gehalten in seinem Versteck, und er wäre 
herbei geeilt, alles aufzubieten zur Befreiung des 
unschuldigen Knaben. 
Die fremden Gäste suchten sich und ihre Pferde, 
so gut es gehen wollte, für die Nacht auf dem Kirch 
hofe unterzubringen. Sie scheuten sich doch, das 
Gotteshaus mit Gewalt zu öffnen und fürchteten die 
wachsende Erbitterung der Dorfbewohner. Denn die 
schnell sich verbreitende Kunde, daß der geliebte Lehrer 
flüchtig sei, daß der Sohn wider alles Recht gefan 
gen gehalten werde und die Mutter außer sich sei 
vor Schmerz und Leid, hatte eine gewaltige Aufre 
gung im ganzen Dorfe hervorgerufen. Aber der kom 
mende Morgen sollte noch Schlimmeres bringen. Statt 
den Gefeßelten frei zu geben und sich an der Angst 
der verstörten Familie genügen zu laßen, schleppten 
die Reiter den vor Frost und innerer Erregung zit 
ternden Knaben beim Grauen des Tages mit sich fort, 
und vor den Soldaten in Reih und Glied, vor den 
gezogenen Pallaschen und den geladenen Karabinern 
senkte sich jeder Arm, der im Zorn sich wider den 
unbarmherzigen Feind erhoben hatte, erstarb jeder 
Schrei der Entrüstung, jeder Ruf nach Hülfe auf den 
Lippen der entsetzten Bewohner. Und die Mutter 
durfte ihr Kind nicht noch einmal sehen, nicht noch 
einmal warm und innig an das Herz drücken. In 
unendlichem Schmerz brach sie zusammen, starr lag 
sie da, als hielt der Tod sie umfangen. 
„Nein, das geht nicht, Adain,« sprach beim Auf 
bruch der französischen Reiter der Besitzer des Meier 
hofes, ein wackerer und beherzter Mann, zu seinem 
Nachbar, dem Gemeindewirth, «daß wir das wehr 
lose Kind in der Gewalt des fremden Volkes laßen. 
Wir müßten uns ja unser Lebtag vor uns selber 
schämen und dürften dem Schulineister und seiner 
Frau nicht wieder unter die Augen treten, wollten 
wir so ruhig zusehen und die Hände in den Schoß 
legen.« 
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