Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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SO 
kein Brot, kein Bißchen Fleisch, nichts im Hause, 
was dem Kranken Stärkung geben könnt'. Und seine 
Frau, die Anne Katharin', ist nicht im Stande, etwas 
Rechtes herbei zu schaffen und ihm dadurch in seinen 
Schmerzen Linderung zu bringen; bald muß sie nach 
dem kranken Manne springen, bald nach den beiden 
kleinen Kindern sehen, denen der leibhaftige Hunger 
aus den matten Augen blickt und die durch ihr Schluch 
zen nach Brot den Kranken nur noch elender machen. 
Sieh, Jakob, wie ich das sah, das war zum Frieren, 
und ich meint', es wär' der kalte, durch die zerrissenen 
Fenster fahrende Luftzug, der mich schüttelte, aber es 
war hier inwendig, was mir das Herz zusammenzog.« 
»Und in den großen Städten," fuhr er fort, 
»erlebt man es oft noch schlimmer, geht es oft noch 
trauriger zu. Da wohnt neben dem großen Reich 
thum und Wohlstand die nackte Armuth und der hohl 
äugige Hunger. Viele schlafen auf seidenen Kissen 
und hüllen sich in kostbare Pelze; aber wie viele haben 
kein Stroh zu ihrem Lager und keinen Lappen, sich 
die Blöße zu decken. Dabei fällt mir just eine Ge 
schichte ein, so ein Gegenstück zu dem, was ich diesen 
Morgen sah. Aber cs thut ein warmer Ofen Noth, 
wenn man sie hören will, sonst friert einen bei so 
viel Elend und Mühsal.« 
«Hoffentlich ist aber auch Sonnenschein dabei, an 
dem man sich wieder wärmen kann,» fügte Schäfers 
Philipp hinzu. »Du hast Recht, Nachbar,» erwiderte 
Konrad, »so war es. Das Licht vertrieb die Fin 
sterniß und mildes Frühlingswetter die lange kalte 
Winternacht». Also hört zu: 
»»Im Jahre 1829 war es bitter kalt, und wenn 
jemand auf der Straße ging, so knitterte und knirschte 
es im Schnee, wie wenn man Glasscheiben zerträte, 
und selbst bei wohlhabenden Leuten, die doch ordentlich 
einheizen konnten, wollten am hellen Mittag die Fen 
sterscheiben noch nicht aufthauen. 
In einem Nachbarlande von Deutschland liegt 
eine große, alte, volkreiche Stadt; in dieser gibt es 
neben schönen, prächtigen Straßen auch elende, enge 
Gaßen und Gäßchen mit finsteren Häusern, aus denen 
aber doch die Armuth ganz hell heraussieht. In einer 
solchen Gaße wohnte eine blutarme Familie, die nur 
auf den Raum einer kleinen Kammer angewiesen war. 
Und doch war es in der Kammer immer so kalt, wie 
auf der Straße. In einem dünnen, elenden Bettlein 
mitten in der Kammer lag ein krankes Kind, das 
aussah, als werde es bald in ein anderes Bettlein 
getragen werden, wo einen nicht mehr hungert und 
nicht mehr friert. Bei dem Kinde saß, die Hände 
vor dem Gesicht, die arme, dürftig angezogene Mutter 
und weinte. — Auf einmal rief es vom kalten Ofen 
her: »Mutter, liebe Mutter, ich hab'Hunger». Es 
war ein Knabe zwischen fünf und sechs Jahren, der 
so rief. Aber die Mutter sagte nichts und blieb wie 
todt sitzen. Das Kind aber fing wieder an und sagten 
»O, gib mir doch nur ein kleines Bißchen zu essen, 
ich kann's nicht mehr aushalten.« 
Und nun schaute die Mutter auf mit einem Blick, 
dem man nur da begegnet, wo wider Berhosfen jeman 
dem das Todesurtheil abgelesen wird, und sagte' 
»Johannes, ich bitte dich um Gottes willen, sei doch 
still, ich sterbe ja selber vor Hunger." Allein der 
Kleine ließ nicht nach und rief wieder: »Ach, gib mir 
doch nur ein klein wenig, liebe Mutter!» 
Und die Mutter hielt es nicht mehr aus, griff 
unter das Bett und langte ein kleines Kreuzcrlaibcheu 
hervor und sagte: »Da hast du es, ich hatte es auf 
gehoben, uin deinem Schwesterchen Brei davon ZU 
kochen, aber das arme Schästein wird cs nicht mehr 
nöthig haben.» 
Der Knabe griff hastig nach dem Laibchen, doch 
als er es halb verzehrt hatte, brachte er die andere 
Hälfte der Mutter und sprach mit heller Stimme: 
»Da, ich habe das für das kranke Schwesterchen auf 
gespart!» Und dann ging er wieder zu dem Ofen zurück. 
Eine halbe Stunde darauf kam der Vater nach 
Hause, blickte die Frau mit tiefer Betrübniß an und 
sagte: »Therese, wir sind doch recht unglücklich. 3$ 
stehe den ganzen Morgen schon auf dem Markte nm 
meinem Schubkarren und habe noch keinen Kreuzer 
verdient. Ich weiß nicht mehr, was ich anfangen soll-" 
»Vater, Vater,» rief da der Knabe, »ich hab' noch 
Hunger, kriege ich jetzt ein Stück Butterbrot?" 
Diese Worte schnitten dem Vater in das HerZ- 
und als er nun auch sah, wie das jüngste Kind "> 
den Tod hinübersiechte, da wollte seine Seele unter 
gehen in miendlichem Jammer und Schmerz, und 
umsonst suchte er einen Ausweg aus der furchtbaren 
Noth. Endlich sprach er: »Ich weiß jetzt nichts an 
deres zu thun, — ich verkaufe bei der Versteigerung 
unseren Schubkarren.« Und das war doch das einzige 
Werkzeug, mit dem der arme Taglöhner sonst sein 
Brot verdiente. 
An jedem Freitag wird in jener Stadt auf dein 
Markte eine Versteigerung gehalten, wo jeder bringen 
kann, was er will. Der Mann gab dem Ausrufer 
seinen Schubkarren und erwartete traurig, bis dw 
Reihe an sein Eigenthum kam. Da gingen gerad 
zwei reichgekleidete Fräulein über den Markt un
	        
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