Full text: Deutsche Grammatik (Erster Theil (Erster Teilband))

XVII 
laS sie theils in anderweiter Absicht, theils vernachlässigte er 
die Betrachtung des mittleren Zeitraums, welcher gleichsam 
zur Brücke dienen muß, um auf den Zusammenhang der 
neuen mit den ältesten Sprachformen zu leiten. Die Gram 
matiker ihrerseits bekümmerten sich selten ober gar nicht um 
die Denkmäler der mittleren geschweige der alten Zeit, son 
dern achteten höchstens auf das nachstvorhcrgehende, indem 
sie gewöhnlich von der eingebildeten Vortrefflichkeit des der- 
maligen Standes der Sprache befangen, aus seinem Maaß 
stab allein alle Gesetze zu erklären, oder vielmehr ihn zum 
Gesetz für die Zukunft zu erheben bemüht waren. Vielleicht 
herrscht in keinem andern Theil unserer Literatur eine ähn 
liche Leere bei aller anscheinenden Fruchtbarkeit, als in der 
Grammatik; ohne jene vorhin getadelte unmittelbare Anwen 
dung auf den Schulgebrauch würbe bas jährliche Erscheinen 
immer neuer Sprachlehren völlig unbegreiflich seyn. Diese 
Menge von Büchern kann jeder, der auf den rechten Pfad 
zu treten gesonnen ist, ganz ungelesen lassen. 
Von dem Gedanken, eine historische Grammatik der 
deutschen Sprache zu unternehmen, sollte sie auch als erster 
Versuch von zukünftigen Schriften bald übertroffen werden, 
bin ich lebhaft ergriffen worden. Bei sorgsamem Lesen alt 
deutscher Quellen entdeckte ich täglich Formen und Voll 
kommenheiten, um die wir Griechen und Römer zu neiden 
pflegen, wenn wir die Beschaffenheit unserer jetzigen Spra 
che erwägen; Spuren, die noch in dieser trümmerhaft und 
gleichsam vcrsteint stehen geblieben, wurden mir allmälig deut 
lich und die Uebergänge gelöst, wenn das Neue sich zu dem 
Mitteln reihen konnte und das Mittele dem Alten die Hand 
bot. Zugleich aber zeigten sich die überraschendsten Aehnlichr 
feiten zwischen allen vcrschwisterten Mundarten und noch 
ganz übersehene Verhältnisse ihrer Abweichungen. Diese 
fortschreitende, unaufhörliche Verbindung bis in das Ein 
zelnste zu ergründen und darzustellen schien von großer Wich 
tigkeit; die Ausführung des Plans habe ich mir so vollstän 
dig gedacht, daß was ich gegenwärtig zu leisten vermag, 
weit dahinten bleibt. 
Kein Volk auf Erden hat eine solche Geschichte für seine 
Sprache, wie das deutsche. Zweitausend Jahre reichen die 
Quellen zurück in seine Vergangenheit, in diesen zweitausen- 
den ist kein Jahrhundert ohne Zeugniß und Denkmal. Wel, 
che altere Sprache der Welt mag eine so lange Reihe von 
Begebenheiten ausweisen und jede an sich betrachtet voll- 
kommncre, wie die indische oder griechische, wird sie für 
das Leben und den Gang der Sprache überhaupt in glei, 
cher Weis« lehrreich seyn?
	        
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