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arten denkbar, wogegen die vollständige,, gleichartige Eut-
Wickelung aller Wurzeln, wie jeder unmäßige Reichthum,
wieder arm machen würde. Auf jeden Fall ist soviel einleuch
tend, wenn man beabsichtigte, das Gebiet der jetzt vorhan
denen Wörter und Formen zu erweitern, daß die gründ
lichste , durchdringendste Kenntniß aller Eigenschaften und
Triebe der Sprache vorausgesetzt werden müßte, um die
vermeintlichen Lücken und Schwächen von nicht blos einer
Seite zu beleuchten und die vorgeschlagene Ergänzung oder
Besserung vernünftig zu berechnen. Was aber bisher zur
Frage gebracht worden ist, scheint mir dürftig aus dem
bloßen heutigen Bestand- vollends ohne alle eingehende Be
rücksichtigung der ftühercn Grundlagen, hcrgegriffen und
man kann sich selten dabei der Bedenklichkeit erwehren, war
um gerade ein oder einige Gegenstände und nicht eben so
gilt viele andere angeregt werden sollen. Hunderte solcher
neuen, ungetansten Wörter in Cchaaren zusammentreiben,
ist keine besondere Kunst, nach weniger Zeit waren die
Wörterbücher zwar um Tausende reicher, aber der Verlust
von zehn Wurzeln und Formen, die wir vor Zeiten wirk
lich einmal besessen, könnte durch den unwillkommenen Zu
wachs .nimmermehr ausgeglichen werden. Die Sprache, hat
mancherlei Schaden erlitten und muß ihn tragen. Die
wahre, allein -zuträgliche Ausgleichung steht in der Macht
des unermüdlich schaffenden Sprachgeisics, der wie ein nisten
der Vogel wieder von neuem brütet, nachdem ihm die Eier
weggethan worden; sein unsichtbares -Walten vernehmen
aber Dichter und Schriftsteller in der Begeisterung und Be
wegung durch ihr Gefühl *).
Sobald die, Critik gesetzgeberisch werden wist, verleiht
sie dem gegenwärtigen Zustand der Sprache kein neues Leben,
sondern stört es gerade auf das empfindlichste. Weiß sic
sich hingegen von dieser falschen Ansicht frei zu halten, so
ist sie eine wesentliche Stütze und Bedingung für das Stu
dium der Sprache und Poesie. Unter den Griechen fanden
sich gelehrte Critiker oder Grammatiker, welche die größte
Sorgfalt darauf verwandten, den Te-'t der alten Dichter,
*) Göthe hat neulich recht schön gesagt (Kunst und Alterthum 3,
5».) "es gibt gar viele Arten von Rciniguna und Bereichen
rung, die eigentlich alle jusammcngreifen niüssen, wenn die
Sprache lebendig wachsen soll. Poesie und leidenschaftliche
Rede sind die einzigen Quellen, aus denen dieses Leben her
vordringt, und sollte sie in ihrer Heftigkeit auch etwas Berg
schutt mitführen, er setzt sich i» Boden und di« rein« Welle
fliesit darüber her."