völligen Uebung *). Wer konnte nun glauben, daß ein so
tief angelegter, nach dem natürlichen Gesetze weiser Spar
samkeit aufstrebender Wachsthum durch die abgezogenen,
matten und mißgegriffenen Regeln der Sprachmcistcr gelenkt
oder gefördert würde und wer betrübt sich nicht über un
kindliche Kinder und Jünglinge, die rein und gebildet reden,
aber im Alter kein Heimweh nach ihrer Jugend fühlen.
Frage man einen wahren Dichter, der über Stoff,. Geist
und Regel der Sprache gewiß ganz anders zu gebieten weiß,
als Grammatiker und Wdrlerbuchmacher zusammengenommen,
was er aus Adelung gelernt habe und ob er ihn nachge
schlagen ? Vor sechshundert Jahren hat jeder gemeine Bauer
Vollkommenheiten und Feinheiten der dentfchen Sprache ge
wußt, d. h. täglich ausgeübt, von denen sich die besten heu
tigen Sprachlehrer nichts mehr träumen lassen; in den
Dichtungen eines Wolframs von Eschenbach, eines Hart
manns von Ane, die weder von Declination noch von Con
jugation je gehört haben, vielleicht nicht einmal lesen und
schreiben konnten, sind noch Unterschiede beim Substantiv«,»
und Verbum mit solcher Reinlichkeit und Sicherheit in der
Biegung und Setzung befolgt, die wir erst nach und nach
auf gelehrtem Wege wieder entdecken müssen, aber nimmer
zurückführen dürfen, denn die Sprache geht ihren unabän
derlichen Gang. Sollte es mir nicht gelungen seyn, die
früheren Eigenschaften und Schicksale unserer deutschen aus
den verbliebenen Denkmälern getreu darzustellen; so zweifle
ich gleichwohl nicht, würde eine noch mangelhaftere Ausfüh
rung dessen, was ich im Sinn gehabt,genug siegende Kraft
in sich tragen, um die völlige Unzulänglichkeit der bisher
ausgeklügelten Regeln in den einfachsten Grundzüge», aus
denen alles übrige fließt, ^ offenbar zu machen. Sind aber
diese Sprachlehren selbst Täuschung und Irrthum; so ist der
Beweis schon geführt, welche Frucht sie in unseren Schulen
bringen und wie sie die von selbst treibenden Knospen ab
stoßen statt zu erschließen. Wichtig und unbestreitbar ist
hier auch die von vielen gemachte Beobachtung, daß Mäd
chen und Frauen, die in der Schule weniger geplagt wer
den , ihre Worte reinlicher zu reden, zierlicher zu setzen und
natürlicher zu wählen verstehen, weil sie sich mehr nach dem
kommenden inneren Bedürfniß bilden, die Bildsamkeit und
Verfeinerung der Sprache aber mit dem Geistesfortschritt
*) Man bezog nach Tzetzes die doppelte Natur des CecropS
O<j'f0 ans seine Kenntniß zweier Sprachen r„--r-c *,**«;
xsc «ah xiyvTrri'te yAaf.xc'), Wirtlich mußte ieder, der zwei
Sprachen wissen will, doppelte Leiber und Seelen haben.