45
Die Gerechtigkeit.
Als bet junge König feinen Einzug hielt,
mischte sich unter sein zahlloses Gefolge auch
eine fremde Frau. Sie hatte sich wie die
andern in Weiß gekleidet und ein blaues Band
durchs Haar gewunden. Weil sie aber so seltsam ernste
Augen hatte, ging ihr jedermann scheu aus dem Wege.
Ein jeder meinte, sie zu kennen und wußte doch ihren
Namen nicht. Da erfaßte ein Kind furchtlos eine Falte
ihres Kleides, sah vertrauensvoll zu ihr auf und sagte:
„Ich kenne dich! Du bist die Gerechtigkeit!"
Das hatte einer von den Mannen des Königs
gehört, der hinterherkam. Dem gingen da auch auf
einmal die Augen auf. Als er ihrem leuchtenden Blicke
begegnete, trat er zu ihr und sagte erstaunt: „Ach ja,
jetzt erkenne ich dich. Aber wie konntest du es auch
wagen, dich in so gewöhnlichem Gewände unter das
Volk zu mischen! Du giltst doch nur in deinen Ab
zeichen, die dir der König verliehen."
„Wie weit ist es mit diesem Geschlechte gekom
men," erwiderte die Gerechtigkeit mit abgekehrtem Ge
sicht. „Immer nur will man in mir die Gewappnete
setzen. Bin ich denn nicht der Liebe Tochter? Wann
wird nran sich wieder an mein natürliches Antlitz ge
wöhnen und nicht mehr verlangen, daß ich das Schwert
tragen und mir die Augen verbinden soll?" —
Der Kriegsmann schüttelte schweigend den Kopf
und eilte weiter. Das Kind aber hing an ihrem Rocke
und ließ nicht ab. Sie hob es empor, küßte es und
sagte: „Sterben nrüßte ich, wenn du mich nicht ver
ständest." —
Wer darum die Gerechtigkeit nicht kennt, der
frage ein Kind.