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bemerken ließ. So vermag oft der unbedeutendste Gegenstand, welcher
einem Raubtiere eine neue Erscheinung ist, dasselbe in die Flucht zu
jagen. Ruhe und Geistesgegenwart sind nicht selten die sichersten Mittel,
um in solchem Falle ein Menschenleben zu retten. Rudolph.
82. Die seltsamen Menschen.
Ein Mann, der in der Welt sich trefflich umgesehen, kam endlich
heim von seiner Reise. Die Freunde liefen scharenweise und grüßten
ihren Freund. Wie's nun so Pflegt zu gehn, so hieß es allemal: „Uns
freut von ganzer Seele, dich hier zu sehn, und nun erzähle!" Was ward
da nicht erzählt! — „Hört," sprach er einst, „ihr wißt, wie weit es bis
zum Lande der Huronen ist. Elfhundert Meilen hinter ihnen sind
Menschen, die mir seltsam schienen. Sie sitzen oft bis in die Nacht bei
sammen fest auf einer Stelle und denken nicht an Gott, noch Hölle. Da
wird kein Tisch gedeckt, kein Mund wird naß gemacht. Es könnten um
sie her die Donnerkeile blitzen, zwei Heer' im Kampfe stehn; sollt' auch
der Himmel schon mit Krachen seinen Einfall drohn,, sie blieben unge-
störet sitzen. Denn sie sind taub und stumm. Doch läßt sich dann und
wann ein abgebrochener Laut aus ihrem Munde hören, der nicht zu
sammenhängt und wenig sagen kann, ob sie die Augen schon darüber oft
verkehren. Glaubt, Brüder, daß mir nie die gräßlichen Gebärden aus
meiner Seele kommen werden, die ich an ihnen sah: Verzweiflung,
Raserei, boshafte Freud' und Angst dabei, die wechselten in den Ge
sichtern. Sie schienen mir, das schwör' ich euch, an Wut den Furien, an
Ernst den Höllenrichtern, an Angst den Missethätern gleich." — „Allein,
was ist ihr Zweck?" so fragten hier die Freunde, „vielleicht besorgen sie
die Wohlfahrt der Gemeinde?" — „Ach nein!" — „So suchen sie der
Weisen Stein?" — „Ihr irrt!" — „So wollen sie vielleicht des Zirkels
Viereck finden?" — „Auch nicht!" — „Bereun sie alte Sünden?" —
„Das ist es alles nicht." — „So sind sie gar verwirrt? Wenn sie nicht
hören, reden, fühlen, noch sehn, was thun sie denn?" — „Sie spielen."
Lichtwer.
83. Oer Bnmnen des Verderbens.
Es ging ein Mann im Syrerland,
fährt’ ein Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
urplötzlich anfing scheu zu werden
und that so ganz entsetzlich schnaufen;
der Führer vor ihm musst’ entlaufen.
Er lief, und einen Brunnen sah
von ungefähr am Weg er da.
Das Tier hört er im Rücken schnauben,
das musst’ ihm die Besinnung rauben.
Er in den Schacht des Brunnens kroch;
er stürzte nicht, er schwebte noch.
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
aus des geborst’nen Brunnens Bauch,
daran der Mann sich fest thät klammern
Deutsches Lesebuch. Ausgabe 0. V. Teil.
und seinen Zustand drauf bejammern.
Er blickte in die Höh’ und sah
dort das Kamelhaupt furchtbar nah,
das ihn wollt’ oben fassen wieder.
Dann blickt’ er in den Brunnen nieder;;
da sah im Grund er einen Drachen
aufgähnen mit entsperrtem Rachen,
der drunten ihn verschlingen wollte,,
wenn er hinunterfallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte,
da sah der Arme noch das dritte.
Wo in die Mauerspalte ging
des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,
da sah er still ein Mäusepaar;
schwarz eine, weiss die andre war.
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