Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

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gar nicht wußte, wer ihr Vater war, und endlich that sie an ihn die 
verbotene Frage. Der Ritter erschrak herzlich und sprach: „Nun hast du 
selber unser Glück zerbrochen und mich am längsten gesehen." Die 
Herzogin bereute es, aber zu spät; alle Leute fielen zu seinen Füßen und 
baten ihn zu bleiben. Der Held waffnete sich, und der Schwan kam 
mit demselben Schifflein geschwommen; darauf küßte er beide Kinder, 
nahm Abschied von seinem Gemahl und segnete das ganze Volk; dann 
trat er ins Schiff, fuhr seine Straße und kehrte nimmer wieder. Der 
Frau ging der Kummer zu Herzen, doch zog sie fleißig ihre Kinder auf. 
Von diesen stammen viele edle Geschlechter, die von Geldern sowohl als 
von Kleve, auch die Rienecker Grafen und manche andere; alle führen 
den Schwan int Wappen. Grimm. 
79. Vom Kranich und vom Wolfe. 
Als einst der Wolf ein Schaf zu gierig fraß, blieb ihm ein Knochen 
im Halse stecken. In seiner Not und Angst erhot er sich, dem großen 
Lohn zu geben, der ihm helfen würde. 
Da kam der Kranich, stieß seinen langen Schnabel dem Wolfe in 
den Rachen und zog den Knochen heraus. — Als er aber den verheißenen 
Lohn forderte, sprach der Wolf: „Willst du noch Lohn baben? Danke 
du Gott, daß du lebendig aus meinem Rachen gekommen bist." 
Luther. 
80. Herr Baron von Münchhausen erzählt einige 
Jagdgeschichten. 
Ich hatte einmal mit einer Kette Hühner einen sehr anziehenden 
Vorfall. Ich war ausgegangen, um eine neue Flinte zu probieren, und 
hatte meinen kleinen Vorrat von Hagel ganz und gar verschossen, als 
wider alles Vermuten vor meinen Füßen eine Flucht Hühner aufging. 
Der Wunsch, einige derselben abends auf meinem Tische zu sehen, brachte 
mich auf einen Einfall, von dem Sie, tneine Herren, auf mein Wort, im 
Falle der Not Gebrauch machen können. Sobald ich gesehen hatte, wo 
sich die Hühner niederließen, lud ich hurtig mein Gewehr und setzte statt 
des Schrotes den Ladestock auf, den ick), so gut sich's in der Eile thun 
ließ, an dem oberen Ende etwas zuspitzte. Nun ging ich auf die Hühner 
zu, drückte, sowie sie aufflogen, ab und hatte das Vergnügen, zu sehen, 
daß mein Ladestock mit sieben Stück, die sich wohl wundern mochten, so 
früh am Spieße vereinigt zu werden, in einiger Entfernung allmählich 
heruntersank. — Wie gesagt, man muß sich nur in der Welt zu helfen 
wissen. 
Ein anderes Mal stieß mir in einem ansehnlichen Walde von Ruß 
land ein wunderschöner schwarzer Fuchs auf. Es wäre jammerschade ge 
wesen, seinen kostbaren Pelz mit einem Kugel- oder Schrotschusse zu 
durchlöchern. Herr Reinecke stand dicht bei einem Baume. Augeublicklich 
zog ich meine Kugel aus dem Laufe, lud dafür einen tüchtigen Brettnagel 
in mein Gewehr, feuerte und traf so künstlich, daß ich seine Lunte fest an 
den Baum nagelte. Nun ging ich ruhig zu ihm, nahm mein Weidmesser, 
gab ihm einen Kreuzschnitt übers Gesicht, griff nach meiner Peitsche und
	        
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