Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

Dadurch erhält die Bernsteinfischerei, welche mehr grosse 
Stücke ausgibt, eine noch höhere Bedeutung als die Gräberei. 
Wenn nämlich das Meer im Sturme grössere, also tiefer 
reichende Wellen schlägt, wühlt es seinen Boden auf und reifst 
den Blasentang darauf los, der sich mit seiner Saugwurzel auf 
den Steinen festgesogen hat und die kleineren und leichteren der 
selben mit sich nimmt. Von allen Steinen am Meeresgrunde ist 
nun seiner geringen Eigenschwere wegen der Bernstein am leich 
testen beweglich, daher der Tang vorzugsweise Bernstein an den 
Strand schleppt und in dortiger Gegend das Bernsteinkraut ge 
nannt wird. 
In den kalten Herbststürmen müssen die abgehärteten Be 
wohner dieser Küste, oft bis an die Brust im Wasser stehend und 
von den höheren Wellen überflutet, mit kleinen Netzen den Bern 
stein fangen und nach dem Sturm mit ihren Booten hinausfahren, 
um die grösseren Stücke, die sich zwischen Steinblöcken des Meeres 
grundes festgeklemmt haben, herauszustechen. Die Gräberei gibt 
jährlich höchstens 15000 kg, die Fischerei dagegen über 
50000 kg, und von einem Handelshaus in Memel wurde der 
flache Grund des kurischen Hafis mit Hilfe von 12 Dampf baggern 
und 3 Handbaggern durchsucht und lieferte etwa 35000 kg. 
Die meisten grossen Stücke wandern für edle Schmucksachen 
nach dem Orient und werden daselbst oder in Danzig und Paris 
verarbeitet, die kleinsten und alle verunreinigten Stücke werden zu 
Räucherpulver oder zu einem köstlichen Malerlack verbraucht; 
aber mehr als die Hälfte des Ganzen wird zu sogenannten Korallen, 
das heisst rohen Perlen, verwendet, welche bei allen wilden Völkern 
Afrikas, Ostasiens und der Südseeinseln stets willige Käufer finden. 
Oft ist der Bernstein mit Stücken Rinde und braunkohlen 
ähnlichem Holze verwachsen, dass man erkennt, er sei wie ein 
Harz aus den Bäumen geflossen. Wie noch heute an flüssigen 
Harzen sind Blätter und Moose, ja selbst kleine Tiere, namentlich 
Insekten, auf ihm haften geblieben und überlaufen, so dass sie 
jetzt wie in einem klaren Glase mit ihren feinsten Teilen aufbe 
wahrt sind. Alle diese Tiere und Pflanzen leben nicht mehr auf 
der Erde, und da der Reichtum im Bernstein so gross ist, dass man 
z. B. schon mehr als 200 verschiedene Arten Spinnen, die sämtlich 
seitdem von der Erde verschwanden, darin erkannt hat, so hat man 
fast eine ganze Naturgeschichte des Waldes herstellen können, 
welcher den Bernstein lieferte, und ersichtlich den Rand des be 
nachbarten finnischen Meerbusens nicht bloss als ein Küstenwald, 
sondern auch als ein höher aufsteigender Gebirgswald umsäumte. 
Es gibt keinen Stein, der in alle Gebiete des menschlichen Wissens, 
in die Naturlehre und die Chemie, die Naturgeschichte der Jetzt 
welt und der Vorweit, ja in die Geschichte und Geographie so 
bedeutsam hineinragt, als der Bernstein, den man in jeder Be 
ziehung mit Fug den preussischen Edelstein nennen kann. 
Meyer.
	        
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