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72. Treue Freundschaft.
Es trafen einmal auf der Wanderschaft zwei Handwerksburschen zu
sammen, der eine ein Schmied, der andere ein Schneider. Sie reisten
miteinander in der Welt umher, bis sie endlich nach Polen kamen. Auf
ihrer Wanderung hatten sie sich an mancher Höhe, unter manchem kühlen
Baume niedergesetzt und schöne Lieder miteinander gesungen, sich auch
ihre Lebensgeschichte von der Zeit an, wo sie noch im Röcklein lieferte
bis hierher erzählt. Dabei waren ihre Herzen gegeneinander so liebreich
geworden, daß sie eine feste Freundschaft machten. Sie teilten fortan
alles miteinander, was freilich bald geteilt war; und wo einer dem
andern eine Freude machen konnte, da that er's. Ans einmal aber wurde
der Schmied krank dort im fremden Polenlande und mußte in einem
Dorfe liegen bleiben, wo ihn die Leute so wenig verstanden als er sie.
Die Dorfbewohner hatten vielleicht auch zuviel eigene Arme und Kranke,
oder es war eine andere Ursache, daß sie sich um den kranken Fremdling
wenig bekümmerten. Da wäre es ihm nun sehr elend ergangen, wenn
sonst niemand gewesen wäre. Aber der liebe Gott ist auch im Polenlande
und hat aller Orten seine dienstbaren Geister lind stellte so einen auch an
das Schmerzenslager des armen Fremdlings, und das war sein lieber
Freund, der Schneider, der verließ ihn nicht in seiner Not. Er war
Tag und Nacht um den Kranken und pflegte und erquickte ihn. Er
wußte die wohlhabenderen Bäuerinnen so mitleiderweckend anzugehen,
daß er bald da, bald dort eine Schüssel kräftiger Suppe herausbrachte,
und wo die bittenden Blicke und sein erlerntes Polnisch nicht zureichten,
da legte er ein Stück seiner Habschaft dafür hin, ein Stück nach dem
andern. Dafür hatte er aber auch die herzliche Freude, seinen Kameraden
nach einiger Zeit wieder hergestellt zu sehen. Dieser wllßte ihm für die
erwiesene Liebe und Treue nicht genug zu danken und weinte oft aus
Liebe und Dankbarkeit und aus Bekümmernis, daß er ihm seine Sachen
nicht wieder ersetzen könne. Der Schneider aber tröstete ihn dann und
sprach: „Was ich dir gethan habe, das habe ich dem Herrn Jesus gethan,
der ist reich genug, alles wieder zu bezahlen; aber es verlohnt sich nicht
der Mühe."
Die guten Freunde zogen nun in Warschau, der Hauptstadt Polens,
ein; da bekam der Schmied Arbeit, der Schneider hingegen nicht. Darum
mußten sie sich trennen. Es that beiden im Herzen wehe, wie sie ein
ander zum letztenmal die Hände drückten. — Dem Schneider ging es
von da an übel; er wanderte beinahe zehn Jahre kreuz und quer durch
die verschiedensten Länder und hatte zuletzt keinen Strumpf mehr an den
Füßen und keine Sohle mehr an den Schuhen. Am Ende geriet er gar
noch unter die Werber, die ihn als Rekruten nach Wien lieferten. Sie
ließen ihn jedoch bald wieder laufen, da sie merkten, daß er den Feinden
nichts weniger als gefährlich werden dürfte; denn er war sehr schwächlich
und fast immer krank. Halbnackend kam er nunmehr nach Sachsen hinein,
und weil er in seinem armseligen Aufzug nirgend Arbeit fand, mußte
er endlich betteln. Da traf es sich, daß er eines Abends in einem Dorfe
bei einem Schmied um einen Zehrpfennig ansprach. Dem Meister, welcher
mit vier Gesellen arbeitete, fuhr die Stimme durch alle Glieder. Er