71. Die Bürgschaft.
1. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Dämon, den Dolch im Gewände;
ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche?
sprich!"
entgegnet ihm finster der Wüterich.
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
„Das sollst du am Kreuze bereuen!"
2. „Ich bin," spricht jener, „zu sterben bereit
und bitte nicht um mein Leben;
doch willst du Gnade mir geben,
ich flehe dich um drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
ich lasse den Freund dir als Bürgen,
ihn magst du, entrinn'ich, erwürgen."
3. Da lächelt der König mit arger List
und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken;
doch wisse: wenn sie verstrichen, die Frist,
eh' du zurück mir gegeben bist,
so muß er statt deiner erblassen,
doch dir ist die Strafe erlassen."
4. Und er kommt zum Freunde: „Der
König gebeut,
daß ich am Kreuz mit dem Leben
bezahle das frevelnde Streben;
doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
so bleib du dem König zum Pfande,
bis ich komme, zu lösen die Bande!"
5. Und schweigend umarmt ihn der treue
Freund
und liefert sich aus dem Tyrannen;
der andre ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
hat er schnell mit dem Gatten die
Schwester vereint,
eilt heim mit sorgender Seele,
damit er die Frist nicht verfehle.
6. Da gießt unendlicher Regen herab,
von den Bergen stürzen die Quellen,
und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wandern
dem Stab,
da reißet die Brücke der Strudel hinab,
und donnernd sprengen die Wogen
des Gewölbes krachenden Bogen.
7. Und trostlos irrt er an Ufers Rand;
wie weit er auch spähet und blicket
und die Stimme, die rufende, schicket,
da stößet kein Nachen vom sichern
Strand,
der ihn setze an das gewünschte Land,
kein Schiffer lenket die Fähre,
und der wilde Strom wird zum Meere.
8. Da sinkt er ans Ufer und weint und
fleht,
die Hände zum Zeus erhoben:
„O, hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag
steht
die Sonne, und wenn sie niedergeht,
und ich kann die Stadt nicht erreichen,
so muß der Freund mir erbleichen."
9. Doch wachsend erneut sich des Stromes
Wut,
und Welle auf Welle zerrinnet,
und Stunde um Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich
Mut
und wirft sich hinein in die brausende
Flut
und teilt mit gewaltigen Armen
den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.
10. Und gewinnt das Ufer und eilet fort
und danket dem rettenden Gotte;
da stürzet die raubende Rotte
hervor aus des Waldes nächtlichem
Ort,
den Pfad ihm sperrend, und schnaubet
Mord
und hemmet des Wanderers Eile
mit drohend geschwungener Keule.
11. „Was wollt ihr?" ruft er, vor Schrecken
bleich,
„ich habe nichts als mein Leben,
das muß ich dem Könige geben!"
Und entreißt die Keule dem Nächsten
gleich:
„Um des Freundes willen erbarmet
euch!"
Und drei mit gewaltigen Streichen
erlegt er; die andern entweichen.