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die Nähe des Würgers verkündet. Dann sucht die kranke Gemse,
die versprengte Ziege mit den letzten Kräften eine Zuflucht.
Aber schon schiefst der Geier herab. Ohne einen eigentlichen
Kampf zu wagen, für den seine schwächeren Krallen ohnehin
nicht immer taugen würden, umkreist er das geängstigte Tier mit
reifsendem, brausendem Flügelschlage; an den Abhang gedrängt,
verwirrt, betäubt, geblendet, stürzt es in die Tiefe, und nun lässt
der gewaltige Vogel sich hinab, um an der zerschellten Leiche
sich bis zur Unbeweglichkeit zu übersättigen. An grössere Tiere
wagt der Lämmergeier sich selten, dagegen wird er Kindern ge
fährlich. Er packt sie und trägt sie in leichtem Fluge seinem
Horste zu. Mehrfache Fälle dieser Art sind noch aus neuerer
Zeit bekannt, und im 16. Jahrhundert erzählt Thomas Platter,
wie er einst als kleiner Hirtenknabe, auf einen schroffen Felsen
grat verirrt, in seiner Todesnot sich bereits den Geiern als Opfer
fallen sah, die aus dem Geklüft heranstrichen, „dass ich forcht,
sy würden mich hinwegtragen, wie denn etzwenn in den Alpen
geschieht.“
Man erlegt den gefürchteten Räuber mit der Kugel, fängt ihn
auch wohl in Fallen; doch ist es vorgekommen, dass er mit einem
solchen 13 kg schweren Eisen an den Füssen ungehindert davon
flog. Ihre Jungen verteidigen sie mit ausserordentlicher Kühnheit,
und das Beschleichen des Horstes hat schon mehr als einen Jäger
in Lebensgefahr gebracht. Josef Scherer, ein berühmter Gemsen
jäger, erkletterte barfufs, mit der Flinte auf dem Rücken, einen
Felsen, auf welchem sich ein Geierhorst befand. Er erlegte das
Männchen, lud das Gewehr von neuem und drang bis zu dem
Horst vor. Kaum war er da, als sich das Weibchen mit fürchter
licher Wut auf ihn stürzte, ihn mit den Fängen an den Lenden
packte, mit dem Schnabel in den Arm hieb und biss und mit
wuchtigen Flügelschlägen vom Felsen in den Abgrund zu stofsen
suchte. Mit aller Macht stemmte sich der bedrängte Schütze an
die Felsenwahd und wehrte sich, soviel er vermochte, gegen die
Angriffe des Vogels. Dennoch wäre er verloren gewesen, hätte
er Stiefeln an den Füssen gehabt und seine Geistesgegenwart
nicht behauptet. Mit der freien Hand richtete er den Flinten
lauf auf die Brust des Vogels, spannte den Hahn mit den Zehen,
drückte mit diesen das Gewehr los und sah den gefährlichen
Feind tot zu seinen Füssen liegen. Die Verwundungen am Arme
waren aber so stark, dass die Narben bis zu Scherers Tode sichtbar
blieben.
Der Lämmergeier ist weit über Europa hinaus verbreitet; in
Abessinien und an den Küsten des roten Meeres, am Altai, im
Kaukasus, am Himalaya, in Südafrika ist er der gefürchtete und
verfolgte Feind der Herden und des Wildes. Der Kopf des
Vogels ist flach und klein, der Stern des Auges rot, der Schlund
weit und blau. Die spitzen Kopf- und Halsfedern sträuben sich
noch im Todeskampfe. Die Füsse sind kurz, bis zu den Zehen
befiedert; diese blaugrau und mäfsig langen Krallen, umspannen
das Handgelenk eines Mannes. Masius.