63
66. Der Alpenjäger.
1. „Willst du nicht das Lämmlein hüten?
Lämmlein ist so fromm und sanft,
nährt sich von des Grases Blüten,
spielend an des Baches Ranft." —
„Mutter, Mutter, laß mich gehen
jagen nach des Berges Höhen!"
2. „Willst du nicht die Herde locken
mit des Hornes munterm Klang?
Lieblich tönt der Schall der Glocken
in des Waldes Lustgesang." —
„Mutter, Mutter, laß mich gehen
schweifen auf den wilden Höhen!"
3. „Willst du nicht der Blümlein warten,
die im Beete freundlich stehn?
Draußen ladet dich kein Garten;
wild ist's auf den wilden Höhn!" —
„Laß die Blümlein, laß sie blühen!
Mutter, Mutter, laß mich ziehen!"
4. Und der Knabe ging zu jagen,
und es treibt und reißt ihn fort,
rastlos fort mit blindem Wagen
an des Berges finstern Ort;
vor ihm her mit Windesschnelle
flieht die zitternde Gazelle.
5. Ans der Felsen nackte Rippen
klettert sie mit leichtem Schwung;
durch den Riß gespaltner Klippen
trägt sie der gewagte Sprung;
aber hinter ihr vermögen
folgt er mit dem Todesbogen.
6. Jetzo auf den schroffen Zinken
hängt sie, auf dem höchsten Grat,
wo die Felsen jäh versinken,
und verschwunden ist der Pfad;
unter sich die steile Höhe,
hinter sich des Feindes Nähe.
7. Mit des Jammers stummen Blicken
fleht sie zu dem harten Mann;
fleht umsonst, denn loszudrücken,
legt er schon den Bogen an.
Plötzlich aus der Felsenspalte
tritt der Geist, der Bergesalte.
8. Und mit seinen Götterhänden
schützt er das gequälte Tier.
„Mußt du Tod und Jammer senden,"
ruft er, „bis herauf zu mir?
Raum für alle hat die Erde;
was verfolgst du meine Herde?"
Schiller.
67. Der Lämmergeier.
Der zu den Adlern gehörende Lämmergeier bildet den
Übergang zn den Geiern. Er hat den langen, starken, unten in
einen Höker aufgeworfenen Hakenschnabel derselben, ohne deren
nackten Hals und Kopf. An den Federkragen der Geier er
innert der 2 bis 3 cm lange Borstenbüschel, der vorwärts ge
richtet den Unterkiefer umgibt und dem Vogel bei uns den
Namen Bartgeier, bei den Abessiniern den Titel „Vater Lang
bart“ erwarb. Auch sein geselliges Zusammenleben und seine
Fressgier stellen ihn zu dieser Gruppe. Nächst der Harpyie
ist er der grösste, nächst dem Kondor der vollkommenste
Flieger. Wer Gelegenheit hat, den erlegten Vogel in seiner
Hand zu wägen, wird erstaunend gewahren, wie er gleichsam nur
aus Federn besteht. Denn bei einer Länge von beinahe 2 m und
einer Flugweite von 3 m wiegt er wenig über 7 kg, und wenn
er, sich vom Boden erhebend, die mächtigen Schwingen zusammen
schlägt, so gleicht ihr Sausen dem Kauschen des Windes in einem
dichtbelaubten Baume. Der Lämmergeier horstet auf den Gipfeln
der Hochgebirge. In unerreichbarer Ferne sieht ihn der Gletscher-
besteiger über sich schwimmen und majestätische Kreise beschreiben.
Zuweilen ertönt sein schriller Pfiff, der tief unten in der Tierwelt