58. Rätsel.
Von Perlen baut sich eine Brücke
hoch über einen grauen See;
sie baut sich auf im Augenblicke,
und schwindelnd steigt sie in die
Höh'.
Der höchsten Schiffe höchste Masten
ziehn unter ihrem Bogen hin,
sie selber trug noch keine Lasten
und scheint, wie du ihr nahst, zu
fliehn.
Sie wird erst mit dem Strom und
schwindet,
sowie des Wassers Flut versiegt.
So sprich, wo sich die Brücke findet,
und wer sie künstlich hat gefügt?
Schiller.
59. Ein Brief über einen Regen.
Lieber Vetter!
Hiermit thue ich Dir zu wissen, daß uns unser Herrgott nach langem
Warten heute mit einem gnädigen Regen heimsucht. Seit einer Stunde
regnet's in hellen Güssen und jetzt noch immerfort, daß das Land dampft.
Ich bin schon zehnmal in den Garten gelaufen, zu sehen, wie alles sich
in die Höhe gerichtet hat und frisch und fröhlich steht, und möchte es
immer wieder aufs neue thun, möchte sogar, wie in meinen jungen Jahren
vor Freuden meinen Rock ausziehen und mich beregnen lassen, wenn's
für meinen grauen Kopf noch paßte. Denn was soll ich nun in der
Stube anfangen? — Ich weiß nichts anderes, als ich setze mich hin und
schreibe einen Brief an Dich, damit ich nur meine Freude so etwas aus
weiten kann. —
Ihr Städter wißt eigentlich gar nicht, was ein Regen ist. Wenn
bei Euch unser Herrgott seine Brunnen ausschließt, so spannt Ihr den
Regenschirm auf, daß Euch kein Tropfen an den Leib kommt, und geht
drunter weg; und auch von Eurem Steinpflaster läuft's so rasch ab, als
es gekommen ist, und nach ein paar Stunden sieht kein Arensch mehr,
daß unser Herrgott dagewesen ist. Was läßt denn die Erde bei Euch
für allerhand grünes Kraut aufgehen? Höchstens habt Ihr ein halb
Dutzend Blumentöpfe im Fensterbrett, und die nehmt Ihr wohl gar noch
bei einem Regen herein und meßt ihnen ihr Teil mit der Gießkanne zu.
Das ist bei uns anders. Da habe ich mich eben noch einmal in den
Garten gemacht und mit meiner Feldhacke in den Gartenbeeten gescharrt,
wie tief der Regen schon gedrungen sei; und es geht bereits über Hand
und Daumen hoch durch und regnet immer noch! Vetter, es ist doch
etwas ganz anderes, wenn unser Herrgott die Gießkanne nimmt! Einmal
geregnet ist besser als zehnmal gegossen, sagt der alte Bauernspruch; denn
beim Regen kriegt jedes Hälmchen und Gräschen auf meilenweit sein Teil
so weit mit zugemessen, wie die Levkojen und der Goldlack auf dem Parade
beete mitten im Garten. Und wenn ich dann bei meinen Bohnen oder
Kartoffeln stehe, so kann ich nicht wegkommen; erst muß ich zusehen, wie
alles mit einemmale so frisch und dunkelgrün wird, was vor wenigen
Stunden noch ganz verschmachtet an der Erde lag, und wie der Regen
auf die vollen, straffen Blätter niederrauscht.
Hei, wie das jetzt wieder anhebt! — Nun, morgen muß ich durch's
Feld. Bin neugierig, was meine Kohlpflanzen dazu sagen, und ob's dem
Weizen nicht zuviel geworden ist! —