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zuzuhören. Ein wissbegieriger Jüngling kam oft mehrere Meilen
weit nach Athen gegangen, um nur einen Tag den Unterricht des
Sokrates zu gemessen. Einst befand sich die Vaterstadt dieses
Jünglings in bitterem Streite mit Athen, und die Athener hatten
den Bürgern derselben bei Todesstrafe verboten, ihre Stadt zu
betreten. Siehe, da legt der junge Freund des Sokrates Weiber
kleidung an und schleicht mit Lebensgefahr abends durch das
Thor, um zu dem geliebten Lehrer zu gehen.
Aber je eifriger Sokrates für Wahrheit und Tugend wirkte,
desto heftigeren Hass zog er sich bei dem grossen Haufen seiner
verdorbenen Mitbürger zu. Besonders zürnten ihm die hochmütigen,
habsüchtigen Volksführer, deren Falschheit er oft in ernsten Worten
züchtigte Endlich klagten sie ihn sogar öffentlich an. Sie sagten:
,,Sokrates glaubt nicht an unsere Götter und verdirbt durch seine
Lehren die Jugend.“’ Und der edle Weise, schon ein Greis von
70 Jahren, wurde vor Gericht gestellt. Mit aller Ruhe verteidigte
er sich gegen die unwürdige Anklage. Im Bewusstsein seiner
Unschuld verschmähte er, unter Bitten und Thränen, wie gewöhnlich
f esch ah, um Mitleid und Begnadigung zu flehen. Das erbitterte
ie Richter, und sie verurteilten ihn zum Tode. Sokrates verzieh
ihnen das ungerechte Urteil und liess sich ruhig ins Gefängnis
abführen. Dort verbrachte er noch 30 Tage. Seine Freunde
besuchten ihn täglich und fanden bei ihm stets Worte des Trostes
und Lehren der Weisheit Sie thaten alles, den geliebten Meister
zu retten. Durch Geschenke gewannen sie den Gefängniswärter,
dass er eines Abends die Kerkerthür offen liess : Sokrates sollte
entfliehen. Aber er wies den Vorschlag zurück und sprach: ,,Man
darf nicht Unrecht mit Unrecht vergelten. Ich habe solange
unter den Gesetzen meines Vaterlandes gelebt und ihre Wohlthaten
genossen; ich gehorche ihnen auch jetzt, da sie zu meinem Ver
derben missbraucht werden.“ — ,,Äch,“ jammerte einer seiner
Freunde, „wenn du nur nicht so unschuldig stürbest!“ — ,,Wolltest
du denn lieber,“ erwiderte Sokrates, ,,dass ich schuldig stürbe?“
An seinem Todestage nahm er Abschied von seiner weinenden Frau
und seinen Kindern und führte mit seinen Freunden die erhaben
sten Gespräche über den Tod, der ihn von allen Erdenleiden
befreie und seine unsterbliche Seele zu den Geistern der grossen
Männer der Vorzeit hinübertrage. Als sich die Sonne zum Unter
gänge neigte, erschien der Gerichtsdiener, einen Becher mit Gift
in der Hand. ,,Sage mir doch, wie muss ich’s machen?“ fragte
Sokrates. „Du musst,“ erwiderte der Diener, ,,nach dem Trinken
auf- und abgehen, bis dich die Müdigkeit befällt; dann legst du dich
nieder.“ Und mit heiterm Antlitz nahm Sokrates den Becher,
betete und trank ihn leer. Bald fühlte er, wie das Gift zu wirken
anfing; er legte sich nieder, seine Glieder wurden kalt und starr.
„Bringt doch den Göttern ein Dankopfer dar!“ sprach er zuletzt
zu seinen Freunden, noch einmal darauf hinweisend, dass er durch
den Tod zu einem höheren Leben eingehe. Dann hüllte er sich
in seinen Mantel und verschied. So starb der weiseste und tugend
hafteste der Griechen. Andrä.