Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

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5. Du bist’s, für den wird werden, 
wenn kurz gewandert du, 
dies Holz im Schoss der Erden, 
ein Schrein zur langen Ruh 7 . 
6. Vier Bretter sah ich fallen, 
mir ward’s ums Herze schwer, 
ein Wörtlein wollt’ ich lallen, 
da ging das Rad nicht mehr. 
Just. Kerner. 
49. Sokrates. 
Der grosse Krieg mit Sparta, welcher Athen so tief erniedrigte,*) 
war auch für die Sitten des Volkes höchst verderblich. Die alte 
Tüchtigkeit war von den Athenern gewichen; leichtsinnig und 
eitel, dachten sie nur an Wohlleben und nichtige Zerstreuung und 
schätzten Witz und Klugheit mehr als Rechtschaffenheit und 
Wahrheit. Aber gerade in dieser bösen Zeit lebte zu Athen der 
tugendhafteste Mann , den Griechenland hervorgebracht hat, der 
weise und gerechte Sokrates. 
Er war der Sohn eines Bildhauers und widmete sich in seiner 
Jugend der Kunst seines Vaters. Doch diese Beschäftigung ge 
nügte ihm nicht: herrlicher, als Bilder von Stein, Holz oder Elfen 
bein zu schaffen, erschien ihm die Aufgabe, die Seele der Menschen 
durch Lehre und Erziehung zur Weisheit und Tugend zu bilden. 
Vor allem arbeitete er an sich selbst; denn er wollte nicht allein 
andern die Weisheit lehren, sondern sie auch selber üben. Er 
erkannte, wie thöricht es ist,, sein Herz an äussere Güter zu hängen; 
daher verschmähte er alles Überflüssige und lebte äusserst einfach 
und massig. Die geringste Kost genügte ihm; seine Kleidung war 
ein schlichter Mantel, und fast zu jeder Zeit ging er barfufs. 
„Nichts bedürfen,“ sagte er, „ist göttlich, und wer am wenigsten 
bedarf, kommt der Gottheit am nächsten.“ Einst klagte ihm ein 
vornehmer Mann, dass das Leben in Athen doch erstaunlich teuer 
sei. Er rechnete ihm vor, wieviel der Purpur, die üppigen Speisen 
und die feinen Weine kosteten. Sokrates ging mit ihm an ver 
schiedene Plätze, wo Lebensrnittel verkauft wurden. Mehl und 
Oliven, die bei Athen in Menge wuchsen, kosteten wenig. Dann 
führte er ihn in einen Laden, wo grobes Tuch zur Kleidung um 
sehr geringen Preis zu haben war. „Sieh,“ sagte er dann, „ich 
finde es ganz wohlfeil in Athen.“ Bei dieser Gleichgültigkeit gegen 
äussere Güter verwarf er indes jede Übertreibung. Einer seiner 
Freunde wollte es ihm zuvorthun und ging, um recht viel Aufsehen 
zu erregen, in einem zerrissenen Mantel einher. „Freund, Freund!“ 
rief ihm Sokrates zu, „durch die Löcher deines Mantels schaut 
deine Eitelkeit hervor.“ 
Durch seine einfache Lebensweise härtete sich Sokrates der 
massen ab, dass er jede Anstrengung aushalten konnte. Frost und 
Hitze, Hunger und Durst ertrug er mit Leichtigkeit; ohne Beschwerde 
*) In dem sogenannten peleponnesischen Kriege (431—404 v. Chr.) stritten 
die beiden griechischen Hauptstaaten Athen und Sparta um die Entscheidung der 
Frage, wer die Führerschaft Griechenlands besitzen sollte. Das Kriegsglück war 
den Athenern abhold, die sich die demütigendsten Friedensbedingungen gefallen 
lassen und die Mauern ihrer Stadt abtragen mussten.
	        
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