Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

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88. Die Glieder des men schlichen Leibes. 
Die Bevölkerung Roms zerfiel in zwei Stände. Den ersten 
Stand bildeten die Patrizier, die Nachkommen der alten Geschlechter, 
aus denen die ursprüngliche Bevölkerung Roms bestanden hatte; 
den zweiten Stand bildeten die Plebejer, die Nachkommen der 
jenigen Bewohner Roms, welche unter den Königen nach Rom 
gewandert und sich dort niedergelassen hatten. Die Patrizier ge 
nossen als Adelstand bedeutende Vorrechte, während die Plebejer 
unter hartem Drucke lebten. Bei den fortwährenden Kriegen 
Roms konnten sie ihre Ländereien nicht bestellen und hatten also 
keinen Unterhalt; oft wurden sie auch genötigt, ihr Gütchen zu 
verkaufen oder gar Schuldner der reichen Patrizier zu werden. 
Als solche aber verloren sie ihre Freiheit und wurden als Leib 
eigene behandelt. 
Schon lange hatten diese Bedrückungen den Unwillen der 
Plebejer gereizt; schon einige Male hatten sie den Kriegsdienst 
verweigert, aber den Patriziern war es noch immer gelungen, bald 
durch Drohungen, bald durch leere Versprechungen den Ausbruch 
der Unruhen zu unterdrücken. Einst kehrte das Volk von einem 
Feldzuge zurück und erwartete nun Befreiung von seinen drückenden 
Lasten. Allein die Patrizier suchten es aufs neue zu täuschen, 
indem sie es sogleich zu einem neuen Kriege führen wollten. Da 
aber kam die lang verhaltene Wut der Plebejer zum offenen Aus 
bruch. Bewaffnet, wie sie waren, verliessen sie Rom und zogen 
auf den heiligen Berg. 
Hierüber entstand zu Rom eine allgemeine Bestürzung. Das 
zurückgebliebene Volk fürchtete die Härte der Patrizier, und diese 
die völlige Auswanderung des Volks oder einen auswärtigen Krieg. 
Endlich beschloss der Senat, eine Gesandtschaft abzuschicken, um 
das Volk zur Rückkehr zu bewegen. An der Spitze- derselben 
stand ein Senator, der als Freund des Volkes bekannt war und 
durch die Erzählung und Anwendung der folgenden Fabel die 
Plebejer zur Rückkehr geneigt machte. 
Die Glieder des menschlichen Leibes wurden einmal über 
drüssig, sich einander zu dienen und wollten es nicht mehr thun. 
Die Füsse sagten : „Warum sollen wir allein euch andern tragen 
und fortschleppen? Schafft euch selbst Füsse, wenn ihr gehen 
wollt!“ Die Hände sagten: „Warum sollen wir allein für euch 
andern arbeiten ? Schafft euch selbst Hände, wenn ihr welche 
braucht! Der Mund sagte: „Ich müsste wohl ein Thor sein, wenn 
ich immer für den Magen Speise kauen wollte, damit er sie nach 
seiner Bequemlichkeit verdauen möge. Schaffe sich selbst einen 
Mund, wer einen nötig hat!“ Die Augen fanden es gleichfalls 
sehr sonderbar, dass sie allein für den ganzen Leib beständig auf 
der Wache stehen und für ihn sehen sollten. Und so sprachen 
alle übrigen Glieder des Leibes, und eines kündigte dem andern 
den Dienst auf. Was geschah ? — Da die Füsse nicht mehr gehen, 
die Hände nicht mehr arbeiten, der Mund nicht mehr essen, die 
Deutsches Lesebuch. Ausgabe c. V. Teil. 3
	        
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