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8. Und er: „Vergieße nicht mein Blut! Acht Pfennige sind mein
ganzes Gut!" Ich glaubt' ihm nicht und fiel ihn an; es war ein alter,
schwacher Mann. Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
9. So rücklings lag er blutend da, sein brechendes Aug' in die Sonne
sah; noch hob er zuckend die Hand empor, noch schrie er röchelnd mir
ins Ohr: „Die Sonne bringt es an den Tag!"
10. Ich macht' ihn schnell noch vollends stilmm und kehrt' ihm die
Taschen um und um. Acht Pfennige war sein ganzes Geld; ich scharrt'
ihn ein auf selbigem Feld. Die Sonne brinqt's nicht an
den Tag!
11. Dann zog ich weiter und weiter hinaus, kam hier ins Land,
bin jetzt zu Haus. Du weißt nun meine Heimlichkeit, so halte den Mund
und sei gescheit! Die Sonne bringt's nicht an den Tag!
12. Wenn aber sie so flimmernd scheint, ich merk' es wohl, was sie
da meint, wie sie sich müht und sich erbost; du schau nicht hin und sei
getrost! Sie bringt es doch nicht an den Tag!"
13. So hatte die Sonn' eine Zunge nun; der Frauen Zungen ja
nimmer ruhn. „Gevatterin, um Jesus Christ, laßt euch nicht merken,
was ihr nun wißt." Der Gevatterin erzählt sie leis, was von des Mannes
That sie weiß. Nun bringt's die Sonne an den Tag!
14. Die Raben ziehen krächzend zumal nach dem Hochgericht, zu
halten ihr Mahl. Wen flechten sie aufs Rad zur Stund? Was hat er
gethan? Wie ward es kund? Die Sonne bracht' es an den Tag!
Chamisso.
30. Vineta.
An der nordöstlichen Küste der Insel Usedom sieht man häufig bei
stillem Wetter in der See die Trümmer einer alten, großen Stadt. Es
hat dort die einst wohlberühmte Stadt Vineta gelegen, die schon vor
tausend und mehr Jahren wegen ihrer Laster ein schreckliches Ende ge
nommen hat. Sie ist größer gewesen, als irgend eine andere Stadt in
Europa, selbst als die große und schöne Stadt Konstantinopel, und es
haben darin allerlei Völker gewohnt, Griechen, Slaven, Wenden und
Sachsen und noch vielerlei andere Stämme. Sie hatten dort jedes seine
besondere Religion; nur die Sachsen, welche Christen waren, durften ihr
Christentum nicht öffentlich bekennen; denn nur die heidnischen Götzen
genossen eine öffentliche Verehrung. Ungeachtet ihrer Abgötterei waren
die Bewohner Binetas aber anfangs ehrbar und züchtig von Sitten, und
in Gastfreundschaft und Höflichkeit gegen Fremde hatten sie ihresgleichen
nicht. Sie trieben einen überaus großen Handel; ihre Läden waren
angefüllt mit den seltensten und kostbarsten Waren, und es kamen Jahr
für Jahr Schiffe und Kaufleute aus allen Gegenden und den entferntesten
Enden der Welt dahin. Deshalb floß denn auch in der Stadt ein über
die Maßen großer Reichtum zusammen, daß man ihn noch kaum unter
zubringen wußte. Die Stadtthore waren aus Erz und Glockengut, die
Glocken aber aus Silber, und letzteres Metall war überhaupt so gemein