Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

24 
8. Und er: „Vergieße nicht mein Blut! Acht Pfennige sind mein 
ganzes Gut!" Ich glaubt' ihm nicht und fiel ihn an; es war ein alter, 
schwacher Mann. Die Sonne bringt's nicht an den Tag. 
9. So rücklings lag er blutend da, sein brechendes Aug' in die Sonne 
sah; noch hob er zuckend die Hand empor, noch schrie er röchelnd mir 
ins Ohr: „Die Sonne bringt es an den Tag!" 
10. Ich macht' ihn schnell noch vollends stilmm und kehrt' ihm die 
Taschen um und um. Acht Pfennige war sein ganzes Geld; ich scharrt' 
ihn ein auf selbigem Feld. Die Sonne brinqt's nicht an 
den Tag! 
11. Dann zog ich weiter und weiter hinaus, kam hier ins Land, 
bin jetzt zu Haus. Du weißt nun meine Heimlichkeit, so halte den Mund 
und sei gescheit! Die Sonne bringt's nicht an den Tag! 
12. Wenn aber sie so flimmernd scheint, ich merk' es wohl, was sie 
da meint, wie sie sich müht und sich erbost; du schau nicht hin und sei 
getrost! Sie bringt es doch nicht an den Tag!" 
13. So hatte die Sonn' eine Zunge nun; der Frauen Zungen ja 
nimmer ruhn. „Gevatterin, um Jesus Christ, laßt euch nicht merken, 
was ihr nun wißt." Der Gevatterin erzählt sie leis, was von des Mannes 
That sie weiß. Nun bringt's die Sonne an den Tag! 
14. Die Raben ziehen krächzend zumal nach dem Hochgericht, zu 
halten ihr Mahl. Wen flechten sie aufs Rad zur Stund? Was hat er 
gethan? Wie ward es kund? Die Sonne bracht' es an den Tag! 
Chamisso. 
30. Vineta. 
An der nordöstlichen Küste der Insel Usedom sieht man häufig bei 
stillem Wetter in der See die Trümmer einer alten, großen Stadt. Es 
hat dort die einst wohlberühmte Stadt Vineta gelegen, die schon vor 
tausend und mehr Jahren wegen ihrer Laster ein schreckliches Ende ge 
nommen hat. Sie ist größer gewesen, als irgend eine andere Stadt in 
Europa, selbst als die große und schöne Stadt Konstantinopel, und es 
haben darin allerlei Völker gewohnt, Griechen, Slaven, Wenden und 
Sachsen und noch vielerlei andere Stämme. Sie hatten dort jedes seine 
besondere Religion; nur die Sachsen, welche Christen waren, durften ihr 
Christentum nicht öffentlich bekennen; denn nur die heidnischen Götzen 
genossen eine öffentliche Verehrung. Ungeachtet ihrer Abgötterei waren 
die Bewohner Binetas aber anfangs ehrbar und züchtig von Sitten, und 
in Gastfreundschaft und Höflichkeit gegen Fremde hatten sie ihresgleichen 
nicht. Sie trieben einen überaus großen Handel; ihre Läden waren 
angefüllt mit den seltensten und kostbarsten Waren, und es kamen Jahr 
für Jahr Schiffe und Kaufleute aus allen Gegenden und den entferntesten 
Enden der Welt dahin. Deshalb floß denn auch in der Stadt ein über 
die Maßen großer Reichtum zusammen, daß man ihn noch kaum unter 
zubringen wußte. Die Stadtthore waren aus Erz und Glockengut, die 
Glocken aber aus Silber, und letzteres Metall war überhaupt so gemein
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.