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hätten sie das Schlimmste überwunden. Also kamen sie der Platte nahe;
da drückte er das Schiffsende mit Macht an den Felsen, erraffte sein
Schießzeug und that einen Sprung hinaus auf die Platte, das Schiff
aber stieß er mit Gewalt weit hinter sich in den See zurück. Nun
kletterte er den Berg hinauf und floh durch das Land Schwyz bis auf
die Höhe an der Landstraße nach Küßnacht, und wo dort eine hohle
Gasse ist, verbarg er sich im Gebüsch, den Landvogt erwartend. Dieser
und seine Diener kamen, mit genauer Not dem See entronnen, an den
Hohlweg geritten. Dell hörte in seinem Versteck allerlei Anschläge des
Landvogts wider ihn, nahm seine Armbrust und durchschoß den Vogt
mit einem Pfeile, daß er tot vom Roß zu Boden sank. Hierauf entfloh
Dell über die Gebirge gen Uri; das Volk aber freute sich überall, wo
die That ruchbar wurde, daß es seines schlimmsten Gewaltherrn entledigt
war. Bäßler.
159. Preis der Tanne.
1. Jüngsthin hört' ich, wie die Rebe
mit der Tanne sprach und schalt:
Stolze, himmelwärts dich hebe,
dennoch bleibst du starr und
kalt!
2. Send' auch ich nur kargen Schatten
Wegemüden, gleich wie du,
führet doch mein Saft die Matten,
o wie leicht! der Heimat zu.
3. Und im Herbste, welche Wonne
bring' ich in des Menschen Haus!
Schaff' ihm eine neue Sonne,
wann die alte löschet aus.
4. So sich brüstend sprach die Rebe.
Doch die Tanne blieb nicht stumm,
säuselnd sprach sie: Gerne gebe
ich dir, Rebe, Preis und Ruhm.
5. Eines doch ist mir beschieden:
Mehr zu laben als dein Wein,
Lebensmüde; — welchen Frieden
schließen meine Bretter ein!
6. Ob die Rebe sich gefangen
gab der Tanne, weiß ich nicht;
doch sie schwieg — und Thränen
hangen
sah ich ihr am Auge licht.
Kerner.
160. Die letzten Augenblicke Salzmanns.
Vor mehreren Jahren starb ein Greis auf seinem Hofgute Schnepfen
thal bei Gotha in Thüringen, ein trefflicher Mensch, ein wackerer Lehrer
und verdienstvoller Erzieher. Sein Name ist Salzmann. Allen den Seinigen,
zu welchen auch seine zahlreichen Schüler aus allen Ländern Europas
gehörten, war er Vater und Freund, und von allen wurde er hinwiederum
gleich geschätzt und geliebt. Als er sein Ende ganz nahe fühlte, bat er
die Seinigen — es war an einem schönen, sonnenhellen Abend — dass
sie ihn noch einmal den Untergang der Sonne sehen lassen möchten. Man
hob ihn daher vom Bette auf einen Stuhl und setzte ihn so, dass die
letzten Strahlen der untergehenden Sonne in seine Augen fielen. Es war
ein grosser, feierlicher Augenblick. Alle seine damaligen Schüler und
Mitlehrer waren in tiefer Stille und wehmütiger Rührung um den Sterbenden
vereint. Da faltete er seine Hände, dankte Gott, dass er ihm zwar einen
heissen Lebenstag, aber bei der heissen Arbeit auch Gedeihen gegeben und