163
ansehen würden." Nun war der Tell ein guter Armbrustschütze, daß
man einen bessern kaum fand, und hatte hübsche Kinder, die ihm lieb
waren. Die ließ der Landvogt holen und sprach: „Tell, welches unter
den Kindern ist dir das liebste?" Der Tell antwortete: „Herr, sie sind
mir alle gleich lieb." Da sprach der Landvogt: „Wohlan, Tell, du
bist ein guter Schütze, wie ich höre; nun wirst du deine Kunst vor mir
bewähren und einem deiner Kinder einen Apfel vom Haupte schießen;
trifft du ihn nicht auf den ersten Schuß, so kostet es dir dein Leben."
Der Tell erschrak und bat den Landvogt um Gottes willen, daß er ihm
den Schuß erließe; denn es wäre unnatürlich, daß er auf sein liebes
Kind schießen sollte; er wolle lieber sterben. Der Landvogt sprach:
„Das mußt du thun oder du und das Kind sterben." Nun sah Tell,
daß er nicht ausweichen konnte, bat Gott inniglich, daß er ihn und sein
liebes Kind behüten möchte, nahm seine Armbrust, spannte sie, legte den
Pfeil auf imd steckte noch einen Pfeil hinten in sein Koller. Der Land
vogt selber legte dem Kinde den Apfel auf das Haupt; Tell zielte und
schoß ihn glücklich dem Kinde vom Scheitel.
Der Landvogt verwunderte sich des meisterhaften Schusses und lobte
den Tell wegen seiner Kunst. „Aber eins," sprach er, „wirst du mir
sagen; was bedeutet es, daß du den ersten Pfeil in das Koller
stecktest? ' Tell erschrak und sprach: „Das ist so der Schützen Gewohn
heit." Der Landvogt aber wußte wohl, daß Tell etwas anderes im
Sinne gehabt hatte, und redete ihm gütlich zu: „Tell, nun sage mir
fröhlich die Wahrheit und fürchte nichts; du sollst deines Lebens sicher
sein, aber die gegebene Antwort nehme ich nicht an." Da sprach Wilhelm
Tell: „Wohlan, Herr, da Ihr mich meines Lebens versichert habt, so
will ich Euch die gründliche Wahrheit sagen. Hätte ich den Apfel ver
fehlt, so würde ich Euch mit dem andern Pfeile nicht verfehlt haben."
Darüber erschrak der Vogt und sprach: „Deines Lebens habe ich dich
zwar versichert; weil ich aber deinen bösen Willen gegen mich erkannt
habe, so will ich dich an einen Ort führen lassen, wo du weder Sonne
noch Mond sehen sollst, damit ich vor dir sicher sei." Hierauf ließ er
ihn binden und auf ein Schiff führen; denn er wollte gen Brunnen
fahren und von dort seinen Gefangenen über Land durch Schwyz in sein
Schloß Küßnacht führen. Als sie nun auf dem See waren, da ließ
Gott einen so ungestümen Sturmwind losbrechen, daß sie alle elend zu
verderben meinten. Da sprach der Diener einer zum Landvogt: „Herr,
Ihr sehet Eure und unsere Lebensgefahr; nun ist der Tell ein starker
Mann und versteht sich gut darauf, mit einem Fahrzeuge umzugehen;
man sollte ihn jetzt in der Not gebrauchen." Von Furcht erbleicht, wandte
sich der Landvogt an Tell mit den Worten: „Wenn du dich getrautest,
uns aus dieser Gefahr zu helfen, so wollt' ich dich deiner Bande ent
ledigen." Der Tell gab zur Antwort: „Ja, Herr, ich getraue, uns mit
Gottes Hilfe wohl zu retten." Also ward er losgebunden, trat an das
Steuerruder und fuhr redlich dahin; da lugte er allenthalben auf gute
Gelegenheit zu entrinnen und auf sein Schießzeug, welches im Schiff beim
Steuerruder lag; und als er der Felsenplatte nahe kam, welche seitdem
den Namen Tell'splatte behalten hat, ersah er seinen Vorteil und ermunterte
die Knechte fest anzuziehen, bis sie vor jene Platte kämen; denn dann
11*