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menschliches Auge hat noch in seine verborgene Kammer geschaut. Aber
wenn er nun kräftiger geworden ist, tritt er leise zum Berge heraus.
Mit hellen Augen sieht er sich um, und es muß ihm draußen gefallen,
denn bald macht er sich auf, hurtig geht's den Berg hinab, über Stein
und Felsen hüpft er mit Lärmen, durch Thal und Wiesengrund eilt er
leise, hat keine Ruhe, wandert fort in die Fremde. Nur im strengen
Winter bleibt er daheim, liegt starr und still in seinem Bette oder sitzt
auf dem Felsen, und die Waldjungen treten ihn mit Füßen, ohne daß
er sich regt. Aber wenn der Schnee geht, und der Frühling kommt,
und die Drosseln und Finken wieder heimkehren zu ihren Thüringer
Nestern, da spricht der Bursche: „Nun fang' ich auch wieder zu wandern
an!" — Und nun geht's mit Ungestüm und Brausen den Berg hinab;
manchen Stein reißt er los, so stark stößt sein Fuß an; da ist sein Weg
ihm nicht mehr breit genug, und er tritt dem Bauer in die Wiese und
fürchtet sich nicht vor dem Pfänden, und: „Wollt ihr mit?" sagt er zu
den Bäumen; „jetzt eben habe ich Lust und bin so stark, daß ich euch
mit hinaustragen kann in die Welt." Die alten Tannen nnd Fichten
aber nicken, und die bereit sind zn Reise, die haut der Holzhauer von
der Wurzel ab nnd legt sie dem Wanderer auf den Rücken; der schleppt
sie fort durchs weite deutsche Land, manchmal bis ans Meer. Noch
keiner ist wieder heimgekehrt. — Weißt du, wer der Wanderer ist?
(Büchner.) — Das Wasser, welches ans den Gebirgen quillt, ist der
Wanderer, denn in großen Flößen gehen die Thüringer Waldbäume auf
der Ilm, auf der Saale und Schwarze nach der Elbe zu, auf der Werra
und Schleuße in die Weser, auf der Steinach, Krvnach und Rodach in
den Main. Von dem Main fahren sie zum Teil in den Rhein, und die
stärksten gehen wohl noch diesen großen Strom hinab bis nach Holland
zu den Schiffsbanmeistern. Mancher Thüringer, wenn er übers Meer
gefahren ist, und der große Mastbaum hat über den argen Sturmwind
geseufzt, hat wohl gemerkt, daß es eine thüringische Fichte war, und hätten
wohl beide denken mögen, daheim im Walde wär's doch schöner.
148. Die Weser.
1. Ich kenne einen deutschen Strom,
3. Doch hat sie in der Zeiten Flug
umwölbt von ernster Eichen Dom,
umgrünt von vielen Buchenhallen.
der ist mir lieb und wert vor allen,
gar manche große Mär' erfahren,
und ihre stille Woge trug
der Alpe dunkler Geist beschworen:
ihn hat der friedliche Verein
Ihn hat nicht wie den großen Rhein
viel herrliches in fernen Jahren.
Sie sah in ihrer Wälder Schoß
des Adlers Siegerflügel wanken
verwandter Ströme still geboren.
und von der Deutschen Arme Stoß
der ewigen Roma Säulen schwanken.
2. So taucht die Weser kindlich auf,
von Bergen traulich eingeschlossen,
und kommt im träumerischen Lauf
durch grüne Au'n herabgeflossen.
So windet sie mit leichtem Fuß
zum fernen Meere sich hernieder
der Ufer sanften Frieden wieder.
und spiegelt mit geschwätz'gem Gruß
4. Und als mit fester Eisenhand
Held Karl den deutschen Szepter führte,
da war es, wo im Weserland
sich manche Stimme mächtig rührte;
da hörte man des Kreuzes Ruf
mit hellem Klang an den Gestaden
und sah der Franken Rosse Huf
sich in den nord'schen Wälder baden.