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dem treuen vierbeinigen Wächter den Auftrag, den kleinen Wälti nicht
aus den Augen zu verlieren. Bernhard versprach alles und hielt nichts.
Eine halbe Stunde später fliegt ein großer, schöner Schmetterling
bei den Knaben vorüber. Bernhard ruft: „Ach!" und schickt sich sogleich
an, ihn zu verfolgen. Bald glaubt er ihn zu haben; aber der Schmetter
ling ist schneller als er, lockt ihn von Blume zu Blume, von dem Felde
nach der Wiese, von der Wiese in den Wald. Während er hier, von
Schweiß triefend, dem bunten Dinge nachläuft, arbeiten die Eltern mit
ihren Leuten, daß es eine Art hat, und entfernen sich immer mehr und
mehr von dem Orte, den sie ihren Kindern angewiesen haben. Der kleine
Wälti sitzt im Grase und singt leise für sich:
„Auf dem Berge bin ich gesessen, hab' den Vöglein zugeschaut;
haben gesungen, haben gesprungen, haben Nestlein gebaut."
Armes, kleines Knäbchen, du singst so fröhlich, ahnst nichts Böses, und
doch schwebt die Gefahr schon über deinem Haupte! Möge der liebe Gott
dir beistehen!
Der Himmel war heiter, und nur kleine Schafwölkchen zogen dann
und wann vorüber und verbargen das schöne Blau desselben. Wälti
weidete sich an den Schäfchen und ganz besonders an einem fortwährend
kreisenden Punkte, den sein scharfes Auge hoch oben in den Wolken er
spähte. Aber dieser Punkt wird immer größer und größer und schießt
pfeilschnell herab auf die Stelle, wo der treue Tyras allein den Liebling
seines Herrn bewacht. Er bellt, er heult — aber vergebens! Der Wind
führt den Schall weit, weit fort, nur nickt zu den Landleuten. Mutig
greift Tyras das geflügelte Ungeheuer, einen großen, großen Adler, an;
aber ach, bald ist dem treuen Tiere das ganze Gesicht zerkratzt und zer
bissen. Der Adler schlägt seine Krallen in Wältis Kleidung und Fleisch
und saust mit ihm durch die Lüfte seinem Horste zu. Dort wirft er ihn
seinen Jungen vor und fliegt wieder davon. Die Reise durch die Luft
und die Krallen des Untiers haben unserm Wälti Betäubung und Blut
verlust zugezogen. Er erholt sich aber bald wieder und wundert sich
nicht wenig, als er beim Erwachen nicht mehr Bruder Bernhard und den
guten Tyras, sondern zwei junge, kaum flügge Adler sieht. Auch die
Räuberkinder sitzen verwundert da, als der vorher unbeweglich daliegende
Klumpen plötzlich anfängt, sich zu regen, und schnappen mit den krummen
Schnäbeln nach ihm. Aber Wälti,' der wieder zu sich gekommen war,
ballt seine Fäuste und wehrt die scharfen Bisse durch tüchtige Hiebe von
sich ab. Mit den beiden Spitzbübchen scheinst du, kleiner Schelm, es
aufnehmen zu können; aber wehe, wehe dir, wenn der grimmige Alte zu
rückkommt ! Dann ist's um dich geschehen.
Während das alles sich zutrug, war der treue Tyras zu seinem
Herrn gelaufen, und dieser ahnte, als er ihn so zugerichtet erblickte, ein
großes Unglück. Wie der Blitz flog der erschrockene Vater nach der Stelle,
wo Tyras mit dem Kindesräuber gekämpft hatte. Dort lagen Federn,
die derselbe für Adlerfedern erkannte. Auf einmal wurde ihm alles klar.
Er eilt dem nahen Dorfe zu, ergreift die geladene Büchse und macht sich
dann allein aus den Weg ins Gebirge einer Felsenmasse, wo schon
jahraus jahrein ein Adler gehorstet hatte. Wie die Gemse klettert er
vo:i Felsen zu Felsen, springt über die furchtbarsten Abgründe und