126
stürzenden Gewässer regelt. Von kahlen Gebirgen ergießen sich die Ge
witterfluten verwüstend ins Thal. Vom Waldgebirge, das sie durch
Stamm, Äste, Zweige, Laub — das sie durch Gras, Moos und lockern
Boden erst sammelt und allmählich abgibt, nehmen solche Regengüsse
langsam und segenbringend den Weg in die Ebene. — Und was in der
ganzen Welt könnte uns den Genuß ersetzen, den unser Geist und Herz
sich aus dem Walde holt! Wollt ihr den Reichtum der Pflanzenwelt
kennen lernen, so ist euch der Wald eine reiche Fundgrube. Mögt ihr
lieber die Gestalt der Tiere beobachten, ihr Leben ins Auge fassen, so
ist euch der Wald ein Schatzkästlein, das ihr nimmer ausleeren werdet.
Der Reichtum des Lebens im grünen Wald, der Einklang, in welchem
die zahllosen Wesen dort stehen und ein so wohl geordnetes Ganze bilden,
das spricht gar laut zu unserem Gemüte. Die frische Waldluft weht uns
die Sorgen von der Stirn, und das muntere Lied der Vögel^rnacht uns
das Herz fröhlich. Aber selbst wenn der Wald vom weißen Schneetuche
des Winters bedeckt ist, so werden noch die dunkelgrünen Tannen und
die Knospen der Laubhölzer zu Predigern, welche uns ein neues Leben
nach dem Todesschlafe des Winters ankündigen. — Wir wissen nun,
warum die Sänger so gern das schöne Lied singen:
„Wer hat dich, du schöner Wald,
aufgebaut so hoch da droben?
Wohl, den Meister will ich loben,
so lang' noch mein' Stimm' erschallt!"
Nach H. Wagner.
121. Im Walde.
1. O Thäler weit, o Höhen,
o schöner, grüner Wald,
du meiner Lust und Wehen
andächt'ger Aufenthalt!
3. Da steht im Wald geschrieben
ein stilles, ernstes Wort
von rechtem Thun und Lieben
unb was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
die Worte schlicht und wahr,
und durch mein ganzes Wesen
ward's unaussprechlich klar.
Da draußen, stets betrogen,
saust die geschäft'ge Welt;
schlag noch einmal die Bogen
um mich, du grünes Zelt!
2. Wenn es beginnt zu tagen,
die Erde dampft und blinkt,
die Vögel lustig schlagen,
4. Bald werd' ich dich verlassen,
fremd in der Fremde gehn,
auf buntbewegten Gassen
daß dir dein Herz erklingt:
da mag vergehn, verwehen
das trübe Erdenleid,
des Lebens Schauspiel sehn;
und mitten in dem Leben
wird deines Ernsts Gewalt
mich Einsamen erheben;
da sollst du auferstehen
in junger Herrlichkeit!
so wird mein Herz nicht alt.
v. Eichendorff.