Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

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I. 
Kein Kräutlein ist auf Erden 
dir, lieber Gott, zu klein; 
du ließt sie alle werden, 
und alle sind sie dein. 
Der Fels, auf dem wir stehen, ist fester Granit. Vielleicht haben 
| ihn vor unendlichen Zeiten die Feuergewalten geschmolzen und hier 
emporgetrieben; vielleicht auch war er von dem Wasser abgelagert, wie 
viele Kalkberge mit ihren versteinerten Muscheln und Fischen. In jedem 
Falle aber war sein Felsenleib anfänglich kahl und öde. Die Sonne 
beschien weitum im Anfang nur nacktes Gestein. Ganz ebenso geschieht 
es noch heute, wenn die feuerspeienden Berge der Erde (Vulkane) neue 
Berge oder Inseln hervortreiben. Auch diese neugeschaffenen Erhebungen 
sind völlig kahl. Die ersten Bewohner des nackten Gesteins seht ihr jetzt 
neben und unter uns: es sind die zierlichen Flechten, die Zwerge des 
Pflanzenreichs. Wie nach der Sage die Zwerge im Innern des Berges 
fortwährend schaffen und thätig sind, so haben die Flechten droben am 
Felsgestein seit Jahrtausenden gearbeitet und ruhen auch jetzt nicht. Der 
Wind führte vielleicht die feinen Fortpflanzungs-Stäubchen herbei, die so 
fein sind, daß sie das Menschenauge nicht erkennen kann. Der Nachttau 
und der feuchte Westwind netzten das Gestein. Die Flechtenstänbchen 
aßen Nebeltropfen und tranken die Luft des Himmels. Der Blick der 
Sonne wärmte sie und trieb sie zur Arbeit. So bildete sich Zelle um 
Zelle zum grauen Kleide, das sich dicht um das Urgestein anschmiegte. 
Es herrscht unter ihnen große Mannigfaltigkeit in Gestalt und Farbe. 
Die Gelehrten haben dafür eine Menge Namen. Ich will nur noch be 
merken, daß in den kalten Erdstrichen die Flechte fast die einzige Pflanze 
ist, welche der Reisende noch antrifft, und an der er in der Not gleich 
dem Renntiere seinen Hunger stillt. Das Flechtenlager hält am^Fels 
die Feuchtigkeit zurück und wirkt auflösend selbst auf den härtesten Stein. 
Trennt einzelne dieser Flechten mit dem Messer ab, und ihr werdet finden, 
daß das Gestein darunter mürbe ist, daß manches Steinkörnchen an der 
Flechte hängen bleibt. So tragen diese Pflänzchen dazu bei, das un 
fruchtbare Felsgestein zu zerfressen und aufzulösen. Jeder Regenguß 
führt von diesem Steingries dem Thale zu. 
II. 
Gott sprach. Da schmückten Höh'n und Felder 
mit Blumen sich und frischem Grün; 
in Gründen rauschten dunkle Wälder; 
der Strauch, der Baum begann zu blühn. 
Das Moos hilft den Flechtengeschwistern bei ihrer Bearbeitung des 
Bodens. Beide sind die ersten Werkleute des Waldes. Sie selbst zer 
fallen am Ende ihres Lebens in schwarze, fruchtbare Erde (Humus), die 
sich mit sandigen und steinigen Erdteilchen vermischt. Das gibt schon 
für manchen Pflanzensamen eine hinreichende Nahrung. Rispengras, 
Riedgras, genügsames Heidekraut, ein Vogelbeerstämmchen und eine Birke 
klammern sich fest. Auch einige Bergblumen kommen dazu: Steinbrech, 
Labkraut, ein Eisenhut oder ein Lattich. Alljährlich sterben die Blüten-
	        
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