Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

113 
7. Früh that ihr des Hirtenhornes 
Getön 
ihr Elend von neuem zu wissen. 
„O wehe! Nun hab' ich nichts aufzu 
stehn !" 
so schluchzte sie nieder ins Kissen. 
8. Sonst weckte des Hornes Geschmetter 
ihr Herz, 
den Vater der Güte zu preisen, 
jetzt zürnet und hadert entgegen ihr 
Schmerz 
dem Pfleger der Witwen und Waisen. 
9. Und horch! aus Ohr und aus Herz 
wie ein Stein 
fiel's ihr mit dröhnendem Schalle; 
ihr rieselt ein Schauer durch Mark 
und Gebein, 
es dünkt ihr wie Brüllen im Stalle. 
10. „O Himmel, verzeihe mir jegliche 
Schuld 
und ahnde nicht mein Verbrechen!" 
Sie wähnt', es erhübe sich Geister 
tumult, 
ihr sträfliches Zagen zu rächen. 
11. Kaum aber hatte vom schrecklichen 
Ton 
sich mählich der Nachhall verloren, 
so drang ihr noch lauter und deut 
licher schon 
das Brüllen vom Stalle zu Ohren. 
12. „Barmherziger Himmel, erbarme dich 
mein 
und halte den Bösen in Banden!" 
Tief barg sie das Haupt in die Kissen 
hinein, 
daß Hören und Sehen ihr schwanden. 
13. Hier schlug ihr, indem sie im Schweiße 
zerquoll, 
das bebende Herz wie ein Hammer; 
und drittes, noch lauteres Brüllen er 
scholl, 
als wär's vor dem Bett in der 
Kammer. 
Deutsches Lesebuch. Ausgabe 0. V. Teil. 
14. Nun sprang sie mit wildem Entsetzen 
heraus, 
stieß auf die Laden der Zelle; 
schon strahlte der Morgen; der Dämme 
rung Graus 
wich seiner erfreulichen Helle. 
15. Und als sie mit heiligem Kreuz sich 
versehn: 
„Gott helfe mir gnädiglich, Amen!" 
Da wagte sie's, zitternd zum Stalle 
zu gehn 
in Gottes allmächtigem Namen. 
16.0 Wunder! Hier kehrte die herrlichste 
Kuh, 
so glatt und so blank wie ein Spiegel, 
die Stirne mit silbernem Sternchen ihr 
Zu; 
vor Staunen entsank ihr der Riegel. 
17. Dort füllte die Krippe frischduftender 
Klee 
und Heu den Stall, sie zu nähren; 
hier leuchtet' ein Eimerchen, weiß wie 
der Schnee, 
die strotzenden Euter zu leeren. 
18. Sie trug ein zierlich beschriebenes 
Blatt 
um Stirn und Hörner gewunden: 
„Zum Troste der guten Frau Magda 
lis hat 
N. N. hierher mich gebunden." 
19. Gott hatt' es ihm gnädig verliehen, 
die Not 
des Armen so wohl zu ermessen; 
Gott hatt' ihm verliehen ein Stücklein 
Brot, 
das konnt' er allein nicht essen. 
20. „So," schwur mir mein Nachbar, „so 
ist es geschehn," 
allein er verbot mir den Namen. 
Gott lass' es dem Edlen doch wohl 
ergehn! 
das bet' ich herzinniglich, Amen! 
Bürger. 
8
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.