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irrte er, ohne Land zn finden. Bald fing den Reisenden die Speise
an auszugehen, und der Hunger qnälte sie schrecklich. In dieser
Not wurde beschlossen, Lose in einen Hut zu werfen; und wessen
Los gezogen ward, der verlor das Leben und musste der andern
Mannschaft mit seinem Fleische zur Nahrung dienen; willig unter
warfen sich diese Unglücklichen und liessen sich für ihren geliebten
Herrn und ihre Gefährten schlachten. So wurden die übrigen
eine Zeitlang gefristet; doch schickte es die Vorsehung, dass
niemals des Herzogs Los herauskam. Aber das Elend wollte kein
Ende nehmen; zuletzt war bloss der Herzog mit einem einzigen
Knechte noch auf dem ganzen Schiffe lebendig, und der schreck
liche Hunger hielt nicht stille. Da sprach der Fürst: „Lass uns
beide losen, und auf wen es fällt, von dem speise sich der andere.“
Über diese Zumutung erschrak der Knecht, doch dachte er, es
würde ihn selbst betreffen und liess es zu; siehe, da fiel das Los
auf seinen edlen, liebwerten Herrn, den jetzt der Diener töten
sollte. Da sprach der Knecht: „Das thu’ ich nimmermehr, und
wenn alles verloren ist, so hab' ich noch ein anderes ausgesonnen;
ich will euch in einen ledernen Sack einnähen, wartet dann, was
geschehen wird.“ Der Herzog gab seinen Willen dazu; der Knecht
nahm die Haut eines Ochsen, den sie vordem auf dem Schiffe ge
speist hatten, wickelte den Herzog darein und nähte sie zusammen,
doch hatte er sein Schwert neben ihn mit hinein gesteckt.
Nicht lange, so kam der Vogel Greif geflogen, fasste den
ledernen Sack mit den Klauen und trug ihn durch die Lüfte über
das weite Meer bis in sein Nest. Als der Vogel dies bewerkstelligt
hatte, sann er auf einen neuen Fang, liess die Haut liegen und
flog wieder aus. Mittlerweile fasste Herzog Heinrich das Schwert
und zerschnitt die Nähte des Sackes; als die jungen Greifen den
lebendigen Menschen erblickten, fielen sie gierig mit Geschrei über
ihn her. Der teure Held wehrte sich tapfer und schlug sie sämt
lich zu Tode. Als er sich aus dieser Not befreit sah, schnitt er
eine Greifenklaue ab, die er zum Andenken mit sich nahm, stieg
aus dem Neste den hohen Baum hernieder und befand sich in
einem weiten, wilden Walde. In diesem Walde ging der Herzog
eine gute Weile fort; da sah er einen fürchterlichen Lindwurm
wider einen Löwen streiten, und der Löwe schwebte in grosser
Not zu unterliegen. Weil aber der Löwe insgemein für ein edles
und treues Tier gehalten wird und der Wurm für ein böses,
giftiges, säumte Herzog Heinrich nicht, sondern sprang dem Löwen
mit seiner Hilfe bei. Der Lindwurm schrie, dass es durch den
Wald erscholl, und wehrte sich lange Zeit; endlich gelang es dem
Helden, ihn mit seinem guten 8chwerte zu töten. Hierauf nahte
sich der Löwe, legte sich zu des Herzogs Füssen neben den Schild
auf den Boden und verliess ihn nimmermehr von dieser Stunde
an. Denn als der Herzog nach Verlauf einiger Zeit, während
welcher das treue Tier ihn mit gefangenem Hirsch und Wild
ernährt hatte, überlegte, wie er aus dieser Einöde und der Gesell
schaft des Löwen wieder unter die Menschen gelangen könnte,
Deutsches Lesebuch. Ausgabe C. V. Teil. 7