Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

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und Antiochien, zogen weiter gen Mittag und erblickten nach vielen 
Gefahren endlich vom Berge herab die Zinnen Jerusalems. Da stürzten 
sie auf den Boden, küßten die Erde und weinten vor Freuden. Klein 
war ihre Zahl, aber die Kraft des Glaubens verdoppelte ihren Mut und 
begeisterte sie, alles zu wagen; weder die festen Türme und ragenden 
Zinnen, von denen die blitzenden Geschosse der Türken niederzischten, noch 
der Mangel an Heergerät, noch Hunger und Durst schreckten sie. Zum 
Sturm! zum Sturm! riefen sie voll Ungeduld, und mit furchtbarem 
Ungestüme tobten sie wider die Mauern. Mit gleicher Tapferkeit vertei 
digten sich jedoch die Türken; da regnete es Pfeile und Flammen auf die 
Köpfe der Kreuzfahrer herab. Aus vielen Wunden blutend, von Flammen 
umleckt, fechten sie fort. Wohl sinkt hie und da schon ein tapferer Held 
vor Ermattung hin. Da zeigt sich plötzlich auf dem Ölberge ein hoher 
Ritter in schneeweißer, leuchtender Rüstung, der winkt ihnen nach der 
heiligen Stadt hin. Ein Cherub mit flammendem Schwerte,: den uns 
Gott zum Mitstreiter gesandt! rufen sie begeistert, und jauchzend sprengen 
sie abermals gegen die Mauer heran. Nun ist kein Halt mehr vor ihnen, 
vor ihrem Anprall gehen die Thore in Trümmer. Tankred der Nor 
manne und Robert von Flandern stürmen in die Stadt, Gott 
fried von Bouillon fliegt wie ein Adler die Zinnen hinan und pflanzt 
die Kreuzesfahne auf. 
So ward Jerusalem von den Christen wieder erobert am 15. Juni 
des Jahres 1099 n. Chr. Darauf erkoren die Kreuzfahrer ihren Feld 
herrn, den frommen Helden Gottfried von Bouillon, zum Könige von 
Jerusalem. Er aber sprach demütig: Das verhüte Gott, daß ich eine 
irdische Krone trage, wo mein Heiland mit Dornen gekrönt worden ist, 
und nannte sich bloß Schirmherr des heiligen Grabes. Das 
dünkte ihm die höchste Ehre. Duller. 
91. Das Rittertum. 
1. Entstehung des Rittertums. — Die Zeit der Kreuzzüge 
war die Blütezeit des Rittertums. Dasselbe hatte sich aus dem Reiter 
dienste hervorgebildet, der als vorzüglich ehrenvoll galt. Ihm widmeten 
sich die Reichen und Adligen, die den Kriegerstand zu ihrem Lebensberufe 
machten. Schwer gerüstet, vom Kopf bis zu den Füßen mit Eisen be 
deckt, von Jugend auf im Gebrauche der Waffen geübt, waren diese den 
gemeinen Kriegern, die zu Fuß dienten, weit überlegen; fast einzig auf 
ihrer Anzahl beruhte die Stärke des Heeres. Bon ihrem Reiterdienste er 
hielten sie den Namen Ritter. 
2. Edelknabe, Knappe und Ritter. — Mit der Zeit bildeten 
die Ritter einen besonderen Stand. Nur wer von Rittern abstammte 
und die Pflichten des Ritterstandes erfüllte, konnte Ritter werden. Diese 
Pflichten bestanden darin, daß der Ritter seine Ehre unbefleckt erhielt, der 
Kirche gehorsam war, den Schwachen und Bedrängten Beistand leistete 
und den Frauen Hochachtung und Höflichkeit erwies. Die Aufnahme in 
den Stand erfolgte erst nach langjähriger Vorbereitung. Vom siebenten 
Jahre an trat der Ritterssohn als Edelknabe in den Dienst eines 
andern Ritters. Hier lernte er Zucht und Gehorsam, übte sich im Reiten
	        
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