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Direktor vor den Augen der Schüler. Stölzel, der immer alles wußte* (er war
ein Musterschüler), erhob den Finger und gab die richtige Antwort."
Dieser Vorfall ist meiner Erinnerung entschwunden, weniger ein anderer,
der mir zwei tüchtige Obrfeigen zuzog. In einer Stunde des (Ordinarius der
Ouarta oder Tertia (Dr. Schimmelpfeng) ließ sich plötzlich ein quietschender
oder pfeifender Ton vernehmen; der Täter meldete sich nicht; der Lehrer
drohte für etwaige Wiederholung ein paar Ohrfeigen an; trotzdem quietschte
oder pfiff es noch einmal, und der Täter blieb wieder unentdeckt. Da wollte
es mein Unglücksstern, daß ich, während der Lebrer sein Auge auf meine
Bank gerichtet hatte, auf dem mit Ölfarbe angestrichenen Pult vor mir mit
meinem Finger herfuhr, der vielleicht von der Hitze feucht war — es
quietschte infolgedessen wieder; der Lehrer stürzte von seinem Ratbeder auf
mich herunter, und ich batte meine Ohrfeigen weg. Vlach der Stunde mußte
ich die -s^cfte der Rlaste dem Lehrer ins Haus tragen. Er brachte die Obr-
feigen zur Sprache, hörte ruhig meine Darstellung des Falles an und glaubte
meiner Versicherung, daß nur eine Unvorsichtigkeit meinerseits vorgelegen
habe. So schieden wir in Frieden, aber die Obrfeigen blieben zeitlebens
auf mir sitzen.
Ein wirkliches Intereste an der Schule erwuchs mir erst in den oberen
Rlasten, eigentlich erst in prima, feit es zur kursorischen Lektüre der Alten
kam und der Geschichtsunterricht wie der Unterricht im Deutschen sich hob.
In Odystee und Ilias brachten wir es dahin, daß wir obne jede Vorbereitung
beliebige Stellen alsbald vom Blatte ab deutsch vortrugen. Auch an platos
Gespräche ging es schließlich beran. Tibull und Tatull waren Lieblingsdichter
des Direktors, machten uns aber gleich Tacitus und Livius ziemliche Schwie
rigkeiten. So interestant ich Ovid fand, so langweilig Virgil; ich begriff nicht
und begreife es auch heute noch nicht, wie der Dichter so viel Furore im
mittelalterlichen Italien machen konnte. Obenan stand der Unterricht in Ge
schichte, dann der in Deutsch (Literatur wie Stil) und in Matbematik bei den
drei ausgezeichneten Lebrern Flügel, Rieß und Grebe, denen alle Schüler
mit großer Anhänglichkeit zugetan waren und auch an ibnen als echten
deutschen Männern emporsahen. Ich glaube kaum, daß ein besterer, ja nur
ein gleich guter Geschichtsunterricht an irgendwelchem Gymnasium je gegeben
worden ist. Der Lebrer trug frei vor, die Schüler schrieben (von Ouarta an)
nach; ich besitze und benutze die Hefte, welche die ganze Geschichte ein
schließlich der neueren Geschichte umfasten, beute noch. Darin steckt die
Grundlage für den mir eingepflanzten geschichtlichen Sinn. Ihn danke ich
Dr. Flügel, babe ihm das auch in späteren Jahren geschrieben und manche
Zeile von ihm erbalten, in der er sich desten freute. Einen Brief von ihm nach
* was mir übrigens keineswegs erinnerlich ist, und was ich mir auch niemals eingebildet
habe.