Full text: Festschrift zum 150. Jubiläum des Staatlichen Friedrichsgymnasiums zu Kassel

strichen der folgenden Schreibaufgabe ganz besonders auf, ließ aber jeden 
Grundstrich in eine feine Spitze auslaufen. Als der Lehrer in der Stunde 
an die Durchsicht des Stoßes Schreibhefte ging, sagte er, ehe er das meinige 
aufschlug: „Nun wollen wir doch einmal sehen, was diesmal der Stölzel 
gemacht hat"; er schlug das Heft auf und brach in ein lautes Gelächter aus, 
das die ganze Rlaffe ergötzte. Noch einmal löste ich ein ähnliches, mir empfind 
liches und deshalb unvergessen gebliebenes homerisches Schulgelächter aus, 
als ich einige Stunden versäumt und die Mutter schriftlich mich mit „Un 
wohlsein" entschuldigt hatte, auf die Frage des Lehrers, was mir gefehlt 
habe, die Antwort gab: „Ich hatte es hinter den Ohren." Nach dem Schluß 
zeugnis Landgrebes, das mich „wohl zur Aufnahme in die sechste Rlaffe 
des Gymnasiums" für fäbig hielt, verdiente ich zwar „das Zeugnis eines in 
jeder Einsicht sehr guten Schülers, indem ich durch Betragen, Eifer und 
schnelle Fortschritte allen Lehrern Freude machte", dem gingen aber die be 
denklichen Worte voraus: „abgesehen von einiger Flüchtigkeit, die mit seinem 
Wesen eng verbunden ist". Diesen Tadel muß ich in gewiffer Beziehung 
als berechtigt anerkennen, und er hat mich mein ganzes Leben in Gedanken 
begleitet, auch vielfach dazu angetrieben, in meinen Arbeiten das Gegenteil 
von Flüchtigkeit zu beweisen. Bei Dingen, die ich zu behandeln habe, ohne 
daß sie mich recht interessieren, neige ich allerdings zu flüchtiger Behandlung; 
bei Dingen aber, die ich mir selbst zur Behandlung auswähle, glaube ich es 
an Gründlichkeit nicht fehlen gelaffen zu haben. Dem entspricht es, daß der 
Gymnasialdirektor Weber, unter welchem ich meine neunjährige Gymnasial 
zeit verbrachte, nach einer Mitteilung seines Nachfolgers G. Bogt in die über 
die Abiturienten geführten Notizen die Bemerkung eintrug, meine Leistungen 
seien „ungleich" gewesen.* Bogt sagte mir das mit dem Anfügen, das sei eines 
der Beispiele, in denen das Urteil Webers sich als nicht zutreffend erwiesen 
habe. Nachdem ich Ende August 1S49 das Abiturienteneramen als pri'mus 
omnium und „als sehr gut vorbereitet" — das war die erste Note — be 
standen, empfahl Weber das Gesuch, das Onkel August für mich um Ber- 
leihung des Thilianschen Familienstipendiums nach Sondershausen richtete, 
unter dem 15. September 1S49 zur Unterstützung; er nannte mich dabei „einen 
Jüngling, der viele und erfreuliche Hoffnungen erwecke", bezeugte mir auch 
„sehr gutes Betragen" und den Erwerb „solcher Renntniffe", daß ich „nicht 
nur von allen Gegenständen des mündlichen Maturitätsexamens" — soweit 
dies gesetzlich gestattet — dispensiert werden konnte, sondern auch nunmehr 
werde zur Akademie entlasten werden. 
* Anlaß war vielleicht, daß ich einmal ertappt wurde, die von Weber zum hersagen auf. 
gegebenen Verse Homers oder Virgils nicht auswendig gelernt zu haben. Ich glaubte, 
das mir ersparen zu dürfen, weil ich in der vorausgegangenen griechischen oder lateinischen 
Stunde die für diese aufgegebenen Verse befriedigend hergesagt hatte.
	        
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