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offenbar nach rein äusserlichen Gesichtspunkten und ohne eigentlichen
innern Zusammenhang erwählten Aneinanderreihung! Vielleicht war die
Art, mit welcher Schiede seinen Visitanden sonderbarer Weise Texte
zudiktierte, die Art und Weise überhaupt, wie sich die Pfarrer Texte zu
ihren Predigten auswählten, deren sie in Anbetracht der noch zu ihrer
Zeit das ganze Jahr hindurch zu haltenden Wochenpredigten, noch ein-
mal soviel zu producieren hatten als wir heutzutage. Wenn dabei wenig
Erspriessliches für den Aufbau der Gemeinde zu Tage gefördert wurde,
so ist das leicht zu begreifen. Zwar gottbegnadigte Männer wie Schiede
waren wohl im Stande, den Reichtum ihres in aufrichtige Gottesfurcht,
lebendigen Glauben und ungefärbte Menschenliebe tiefeingetauchten
Geistes an der Hand eines jeden Schriftwortes ohne Unterschied an
den Tag zu bringen, aber die grossen Geister waren damals so gut wie
heute dünne gesäet. Das ‘Beispiel, das Schiede mit seiner Textwahl
gab, war in jedem Fall kein geschicktes. Es leistete einer Entartung
der homiletischen Leistungsfähigkeit unter den Predigern Vorschub, die
auf öde Battologie und leeres Phrasengeklingel hinauslief. Es war ganz
natürlich, dass, wie wir oben vernommen haben, ernste Klagen über
das schlechte Predigen der Pfarrer laut wurden. Die guten Alten,
Grimm, Schiede voran, von denen der erste dicta probantia zur
reformierten Dogmatik vor andern Worten der Schrift für wichtig und
werthvoll zu halten scheint, homiletisch behandelt zu werden, haben das
freilich nicht bedacht, nicht geahnt, aber die von ihnen beförderte Pre-
digtart und -weise hat unzweifelhaft mit dazu geholfen, die Ohren der
Hörer taub und die Gemeinde allmälig aus dem Worte Gottes hinaus-
zupredigen. Spätere Geschlechter mussten es wieder lernen, in die
Ohren der Menschheit zu greifen und ihnen mit der Gnade und Hülfe
des heiligen Geistes ein kräfıiges Hephata in die Herzen hinein zu seuf-
zen, indem es ihnen verstattet ward, denselben die reichen und uner-
schöpflichen Schätze des ganzen Wortes Gottes, wie sie der Kirche
namentlich in den Perikopen mit auf den Weg gegeben sind und die
unter dem Elend des Rationalismus am Ende fast gänzlich verschüttet
waren, wieder zugänglich zu machen.
Das oben erwähnte Circularschreiben, mit welchem Schiede die
Visitation ankündigte, auf der wir ihn im Geiste‘ begleitet haben, schloss
mit dem Wunsche, dass Gott das ganze Vorhaben segnen möge. Leider
ging dieser Wunsch nicht ganz so in Erfüllung, wie "er wol gedacht
hatte. Sie sollte durch einen jähen Abschluss unterbrochen werden.
Auf den schlechten Wegen in der Gegend von Oherkalbach, auf denen
man ‘noch zu unserer Zeit am hellen Tage über Stock und Stein stol-
pernd zu Schaden gelangen konnte, kam der Wagen, in dem Schiede
reisete, zu Fall und zerschellte. Der Schmied des Dorfes kurierte den
Wagen notdürftig — wie eine im Pfarrei-Archiv zu Oberkalbach aufge-
fundene Rechnung besagt, aber den Leibesschaden, welchen der pflicht-
eifrige, treue Mann davon getragen hatte, kurierte ihm Niemand.
Schiede sah sich infolge dessen genötigt, sich als Inspektor seiner
Diöcese emeritieren‘ zu lassen, und ist einige Jahre danach zur Ruhe