Full text: Das Werratal

Man sollte im Frühherbst wandern, da die schönen Tage uns gegeben werden 
wie kostbare Geschenke, da wir uns des Wertes bewußter sind, den die goldenen 
Wanderstunden in sich tragen, da die Bläue des Himmels ist wie jene blaue 
Seide, die man nur selten zu sehen bekommt, die vielleicht in Schlössern als 
etwas ganz Erlesenes aufbewahrt wird. So ist die Seide des Himmels in diesen 
Tagen und 
„Das sind die Herbste, die wie Prunkgewänder 
In der Erinnerung von Dichtern liegen,“ 
Burgen und Türme aber stehen dagegen wie Bronze. 
Wir steigen vom Hörselberg nach der lockenden Wartburg hinüber, es 
will uns bedünken, es sei ausgewandert, wir haben nun alles genossen, was 
das Land der Mitte Germaniens dem Wanderer geben konnte und entdecken 
plötzlich, daß wir wieder an einer Schwelle stehen, hinter der sich Schönheit und 
Lieblichkeit in immer neuer Frische auftut und uns etwas anderes, etwas ganz 
Neues zeigt. Das Werratal. 
Die Werra, welch ein lieber deutscher Fluß. Schwermütig einmal zwischen 
dunklen Bergen, dann wieder in unendlich weiten und unendlich sonnigen 
Wiesentälern sich verlierend; eigenwillig immer in unvorhergesehenen Win- 
dungen glitzert und gleistert sie dahin. An grauen Tagen schleicht sie stumm 
vorbei an sonderbaren, alten, vergessenen Städtchen, bis sie bei Hannoversch- 
Münden, der seltsam schönen, ernsten und stillen Stadt, zur Weser wird, 
gemeinsam mit der Fulda wird sie ein neuer deutscher Strom. Bis dahin 
aber ist sie ein Eigenes, die Werra, und nicht die Weser. Trotzdem gelehrte 
Leute, Gott schenk uns ihre Sorgen, behaupten, Karl der Große hätte „Wisera“ 
gesagt und Tacitus „Visurgis‘“. In die Ecke mit der Buchgelehrsamkeit. Dies 
Tal und dieser Fluß sind etwas so Eigenes, daß wir auch einen eigenen Namen 
dafür brauchen. 
Der Jubel des Sehens und Erlebens beim Wandern erfaßt uns, wir sind 
gleich ganz weltabgewandt und hingegeben diesem Werralande, wenn wir die 
Turmkloben der Brandenburg, ernstbedeutend und herrisch noch im Zerfall, 
über dem weiten Tale leuchten sehen. 
Wir wollen hier nicht Historia verzapfen, die wir auflesen müßten von 
anderen, die sie auch erst aufgelesen haben. Wir wollen gar nicht so viel 
wissen, nicht mehr wie der Wanderfalke, der sich doch auch mit offenbarer 
Freude und ganz unbeschwert gegen den Wind wirft von Gipfel zu Gipfel und 
von Burg zu Burg. Außerdem es ist sehr drollig zu beobachten, wieviel Les- 
arten die Gelehrten über Namen und Hergang jeder Sache haben, wir aber 
lieben die Lesart der grünen Bäume, die um alte Mauern rauschen. In jedem 
alten Gemäuer geht uns ein Ritterfräulein um. An jeder Quelle sitzen uns 
Undinen und schöne Melusinen. Wir wandern und lachen, weil die Sonne 
scheint.
	        
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