vorgekommen?) Die Kirchenparade zeigte die militärische Haltung und
schöne Uniformierung der Truppen. Interessant war mir dabei die Equipage
der Gräfin Reichenbach 2 ) mit sechs herrlichen Engländern und zwei Jockeis,
weit mehr aber noch die schöne Frau, die darinnen saß, die schöne Helena, die
den dritten (?) Mann fesselt: Göttingen und Cassel, welche Kontraste! Dort
Stille, Ärmlichkeit, Geschmacklosigkeit, hier Leben, Ueberfluß (scheinbar
wenigstens), Eleganz und Glanz. Aber ich sehe auch deutlich ein, wie wenig
eine Stadt wie Cassel eine wahre Universitätsstadt sein konnte. Solche Herr-
lichkeit muß den jungen Leuten den Kopf verdrehen, komme doch ich alter
prosaischer Mensch nicht ohne einen Rausch, einen Schwindelanfall davon.
Solche Empfindungen habe ich nicht gehabt, als ich Berlin sah; nur den Ein
druck von Dresden im Jahre 1832 kann ich damit vergleichen. Die Gegend
ist aber auch hier unvergleichlich, und ich glaube fast, daß sie noch reicher ist
als die Dresdener. Die Aussichten von der Wilhelmshöhe sowie in die Aue
suchen ihresgleichen.“
Die schönste poetische Verklärung fand Cassel in dem 1834 erschienenen
„Prinz Rosa Stramin“ von Ernst Koch, einem kleinen Buche voll goldigen
Humors, von dem Franz Dingelstedt sagte, daß es „eine schwellende Saat sei,
aus der in besserem Boden die reichste Ernte erwachsen wäre.“ Es geißelt
harmlos manche Auswüchse der Zeit, und deshalb verstand man es in Cassel
nicht und sah darin nur eine Herhöhnung des Instituts der Bürgergarde und
des konstitutionellen Sinnes der Bürger. Dingelstedt hat dem hiesigen Phi
listertum viel bitterere Wahrheiten gesagt in seinen „Bildern aus Hessen-Cassel“,
die er im Herbst 1836 in Cewalds „Europa“ erscheinen ließ, und über welche
die ganze Stadt in Gärung geriet. Der Verfasser, seit 1836 Lehrer am Gyzeum
dahier, hatte einen Kreis geistvoller junger Leute um sich versammelt, darunter
besonders fein Landsmann Fr. Otker sich, auf politischem Gebiet mehr als auf
dem literarischen, später einen Hamen in Hessen gemacht hat. Die Devise
der schönen Geister jener Zeit war freilich, vor allem geistreich und dann erst
wahr zu sein. Der kleine Dichterkreis Bentzel-Sternau, Heinrich König, Otker,
Schädel, Scheffer, Schulz, zu denen auch Jul. Rodenberg zu rechnen ist, gaben
unter Dingelstedts Leitung noch 1838 das Hessische Album für Literatur und
Kunst heraus. Der noch heute lesbare komische Roman Dingelstedts „Die
neuen Argonauten“ schildert in humorvoller Weife eine Fahrt auf dem Hers
felder Marktschiff nach Cassel und den Ausbruch der Holkserhebung in Roten
burg a. F. im Jahre 1830 sowie hiesige Lokalverhältnisse. Tief empfunden ist
1) Er lag an der Gehe des Martinsplatjes, Hedwigftrafje Tlr. 11.
2) irrtümlich für Gräfin von Schaumburg.
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