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nach dem geliebten Marburg zurückkehren konnte, als dieses wieder an die
Casseler Linie gefallen war, während Neuberger seit seiner Ernennung zum
Superintendenten eine außerordentliche Tätigkeit entfaltete, das sittliche
Leben der ihm unterstellten Geistlichkeit möglichst vor der Verrohung durch
den Krieg zu bewahren und das Amt der Seelsorge ihnen als das wichtigste
vor Augen zu führen.
Denn jetzt beginnen für Hessen die drei schlimmsten Jahre des 30 jährigen
Elendes. Mit dem Antritt seines neuen Amtes begann Neuberger, die Schick-
sale des Krieges, soweit er insbesondere Hessen berührte, kurz aufzuzeichnen.
Drei Jahre lang (1635—1637), erzählt er da, war es ihm wegen der allgemeinen
Unsicherheit im Lande und der Gefahr der feindlichen Streifkorps unmöglich,
die schützenden Wälle der Festung zu verlassen und die vorgeschriebenen amt-
lichen Disitationsreisen zu machen. Erst 1638, als sich’s, wie er schreibt, „mit
der Fest und anderm Unwesen ein wenig gestillet", ist er ausgezogen, die Pfar-
reien zu visitieren und die Rechnungen abzuhören.
Hauptsächlich war es die Fest, die auch hier in der überfüllten Festung
massenhafte Opfer forderte. In der Altstädter Gemeinde z. B. verstarben in
1637 unter 365 Personen 105 Fremde. An jedem Tag eine Beerdigung war
bei der geringen Bevölkerungszahl sehr viel! Mit dem Elend ging die Lieder-
lichkeit Hand in Hand; die tägliche Erwartung des Verderbens stumpfte die
Herzen ab, welche ohnehin, so lange die gemütlose, haßerfüllte Polemik gegen
Andersgläubige die Kanzeln beherrschte und als die Hauptsache galt, in der
Kirche Trost und Befriedigung nicht finden konnten, und führte sie einerseits
zur Mystik der Weigelianer und Kofenkreuzer, andererseits zum Atheismus.
So seltsam es klingt: ein eisiger Hauch des Unglaubens beginnt über die Mensch
heit jener Tage dahinzugehen, trotzdem oder vielleicht gerade weil sie um des
Glaubens willen so Unsägliches erduldete. So klagt Neuberger in seinen 1633
erschienenen „Soliloquia vom göttlichen Leben", daß der Atheismus, sonderlich
bei diesen greulichen Zeiten, bei allen Ständen am gemeinsten und leider die
allergrößte Sekte sei. Da seien, sagt er, die offenbaren Atheisten und Epi-
kuräer und die heimlichen. Jene leugnen offen Gott und die Vorsehung;
sagen, daß es mit Religions- und Glaubenssachen eitel nichts und nur ein
Gedicht sei kluger Leute, das gemeine Volk dadurch im Zaum zu halten; daß
aber das höchste und beste Gut des Menschen sei die Wollust des Fleisches,
sintemal nach diesem Leben nichts mehr zu gewarten sei. „Kommt her, laßt
uns Wein holen und vollsaufen, rufen sie, und soll morgen sein wie heute und