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Herren, die eilig ins Schloß flüchteten, da der wilde Haufe sie sonst totge-
schlagen hätte. Dieser folgte ihnen nach. Die Parteigänger der Landgräfin
schürten die Flamme, indem sie den Bürgern einredeten, der junge Landgraf
sei ihnen anvertraut worden, und nun wolle man ihn aus ihrer Mitte ent
führen. An Andeutungen, daß die Wettiner ein wesentliches Interesse
hätten, wenn jener nicht zu seinen Jahren komme, wird es nicht gefehlt
haben. Mit drohendem Geschrei begehrten sie also, ihn zu sehen, und hätten
das Schloß gestürmt, wenn die Regenten nicht sich mit dem jungen Fürsten
am Fenster gezeigt hätten. Gleichwohl behielt die Erregung in der Bürger
schaft einen solchen Grad, daß die fremden Fürsten und die Regenten es
vorzogen, die Stadt zu verlassen.
Der Rücktritt sudwigs von Boyneburg und der übrigen Räte war die
unmittelbare Folge dieses stürmischen Auftrittes, und Cassels Bürger hatten
das Verdienst, die sage geklärt, die Sache zugunsten der sandgräfin-Mutter
entschieden zu haben. Denn alsbald begaben sich Abgeordnete des Rats und
der Bürgerschaft zu Anna nach Marburg, baten und flehten, daß sie nach
Cassel zurückkehren und sie der Verantwortung um den jungen Fürsten ent
heben möge, Und Anna, innerlich triumphierend, gab nach scheinbarem
Widerstreben den flehenden Bitten nach, nahm die Hauptstadt zu Gnaden
an und wurde hier mit großem Jubel empfangen, als sie einritt, den Sohn in
ihre eigene Obhut und Erziehung zu nehmen. Sie brachte ihn und ebenso
ihren Schwager, den geisteskranken sandgrafen Wilhelm den Alteren, nach
Marburg. Das ganze Land lag ihr bald zu Füßen. Ein neuer Beirat, den alten
Waldenstein an der Spitze, wurde gebildet, aber Anna führte tatsächlich das
Regiment: sie hatte ihr Testament durchgesetzt.
Ob sie die Geschäfte besser geführt als der gestürzte Landhofmeister,
ist eine andere Frage. Dieser und seine Kollegen, soweit sie nicht bereits zur
Gegenpartei gehörten, wurden aller ihrer Güter für verlustig erklärt und
starben meist, ohne Recht erhalten zu können, in Ungnaden. Erst nach
Schrautenbachs Tode (1527) wurde ihre Sache von neuem untersucht, und
Boyneburg wenigstens hatte die Genugtuung, völlig restituiert zu werden.
Mit der Regierung seiner Mutter war Philipp selbst wenig zufrieden, als
er volljährig geworden. Seine Mündigkeitserklärung geschah durch den
Kaiser nach fränkischem Recht im Jahre 1518, d. h. als Philipp 14 Jahre
alt war. Von da ab ward die Kluft zwischen Mutter und Sohn immer
tiefer, einmal als erstere in ihrem 35. Jahre mit dem um 11 Jahre jüngeren
Grafen von Solms zu Laubach eine zweite Ehe einging, und dann, da die
bigotte Frau für die reformatorischen Bestrebungen Philipps auf kirchlichem