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verzeichnet. Es ist nicht sicher, ob die beiden Teile von vorneherein für einen einzigen
Band bestimmt waren; jedenfalls ist der Charakter des Initialschmuckes gleich, wenn
auch im zweiten Teil feiner und mehr entwickelt. Aus dem handschriftlichen
Bandkatalog unserer Bibliothek vom Ende des 18. Jahrhunderts geht hervor, daß der
Kodex schon zu dieser Zeit stark verstümmelt war. Es fehlen zwei Lagen und
Einzelblätter; Schmuckräuber haben mindestens sieben Initialen bzw. Miniaturenteile-
mit Sicherheit in jedem Fall solche mit figürlichem Schmuck - herausgeschnitten,
darunter die zum Vere dignum (50 r ), zum Fest des Hl. Wigbert (94 rv ), zur Geburt
Mariens (Bl. 98) und zum Lullusfest (103 r ), aber auch das A zu Beginn des Graduale
(Ad te levavi animam meam . . .). Ganz besonders schmerzlich fällt der barbarische
Eingriff bei den Zierseiten zum Canon missae Bl. 52 v und 53 r ins Gewicht: Bei dem
ersteren, dem Widmungsbild, blieben nur der prächtige Rahmen und die kniende Figur
eines Mönches erhalten, während die ganze obere Bildhälfte und zwei Figuren rechts
und links des Mönches fehlen; es waren vermutlich die Hersfelder Patrone Wigbert und
Lullus, was man aus dem erhaltenen schmalen Schriftstreifen erkennen kann, der obere
und untere Bildhälfte trennt: SCS LVLLVS EPC und WICBERTVS CONE. Beim
Kanonbild rechts fehlen die Assistenzfiguren zu beiden Seiten des Kreuzes. Der
Schmuckräuber hat beim Ausschneiden die folgenden Blätter verletzt. Dennoch gehört
dieses Bild mit der leicht geschwungenen Körperlinie des Gekreuzigten, den fast
schwerelosen Armen und Händen, die gleichsam segnend erhoben sind - die ganze
Darstellung nimmt schon Auferstehungsgestik voraus -, das geneigte Haupt mit den
strengen, entrückten und Sicherheit ausstrahlenden Gesichtszügen, dennoch also
gehört dieses Bild zu den eindrucksvollsten Hclmarshäuser Erzeugnissen.
Hinweise auf die Herkunft der Handschrift bieten einmal der Buchschmuck, zum
anderen die Heiligenfeste. Der Name des Klosters Helmarshausen an der Diemel, das
im 12.Jahrhundert überragende kunstgeschichtliche Bedeutung hatte, ist nirgends
erwähnt. Die Ornamentik der Initialen steht derjenigen der Evangeliare von Lund, die
höchstwahrscheinlich in Helmarshausen entstanden, sehr nahe. Neben weiteren
Vergleichspunkten ist die Figur des Christus am Kreuz selbst zu nennen, die im
Kreuzigungsbild des Psalters von Heinrich dem Löwen (gest. 1195) auf Bl. 10 v ihre
deutliche Parallele findet. Dieses nur noch 11 Blatt starke Fragment der einst
prachtvollen Handschrift befindet sich heute im Britischen Museum in London. Der
Psalter entstand um 1167 in Helmarshausen. Auch hier, ebenso wie in unserem
Graduale, ist der hl. Modoaldus hervorgehoben, der Patron von Helmarshausen,
allerdings im Festkalender (12. Mai). Im Graduale erscheint er in der Litanei Bl. 18 v f.
Da im Gegensatz zu den anderen dort angerufenen Heiligen alle Buchstaben des
Namens Modoaldus rot pungiert sind - nur Maria wird ähnlich gekennzeichnet -, kann
man auf Helmarshausen als Entstehungsort der Handschrift schließen. Modoald
übrigens war seit 614/15 Bischof von Trier und wegen seiner Mildtätigkeit hoch
angesehen. Er starb 647/49; seine Gebeine wurden durch Abt Stephan von Lüttich
(gest. 1107) nach Helmarshausen überführt. - Im Graduale werden zwar Wigbert und
Lullus, die Hersfelder Lokalheiligen, aufgeführt, aber durch nichts hervorgehoben.
Man kann also annehmen, daß dieser Teil der Handschrift nicht in Hinblick auf