Petrarca: Rime
Autobahnrastplatz bei Alsfeld entdeckt, inmitten eines Papierhaufens. Er hatte sich
zwar bemüht, den Stempel Ex Bibliotheca Cassellana zu entfernen, was ihm nicht
gelungen war, aber er gab die gefundenen Bände anläßlich einer Hausdurchsuchung
ohne Zögern und mit blauäugiger Erklärung heraus. Die Wasserschäden vor allem im
ersten Teil des Bandes gehen allerdings nicht auf diese Autobahnepisode zurück; schon
Gustav Struck beschrieb sie 1930.
Die Handschrift enthält sämtliche italienischen Gedichte Petrarcas. Uber diesen
Werken, die fast allein wir heute mit seinem großen Namen verbinden, vergißt man nur
zu leicht, daß er seinem viel umfangreicheren lateinischen (Euvre, u. a. den Epistolae
metricae, eine viel höhere Bedeutung zugemessen hat. In ihnen legte er vor allem jene
Gedanken nieder, die für die Entwicklung der Renaissance von grundlegender
Bedeutung waren. Neben humanistischen Studien ist es die Wiederentdeckung des
klassischen literarischen, politischen, künstlerisch-ästhetischen Erbes, die ihn faszi
nierte und formte. Hanns W. Eppelsheimer, der feinsinnige Interpret Petrarchischer
Werke, betont, daß er nicht bewußt die gewaltigen Erneuerungen anstrebte, die er
auslöste, daß er vielmehr als der feine, überempfindliche, hypochondrische und mit
phänomenalem Formsinn begabte Ästhet, als der er uns in seinen Gedichten und
Briefen gegenübertritt, das Neue beging, daß er verführt war von der Entdeckung des
Eigenwertes von Mensch, Gefühl, Form und Schöpfung.
Fast ausschließliches Thema der Gedichte des Canzoniere, das er seit 1366 in die
endgültige Form goß, ist jene durch ihn unsterblich gewordene Laura, Laura de Sade,
die er am Karfreitag des Jahres 1327 in Santa Chiara in Avignon sah. Ihr Anblick traf
ihn wie ein Blitz, und er, der alles andere als ein Kostverächter war und blieb, formte
aus dieser keuschen Liebe in der Tradition der Troubadours und Dantes ein vollendetes
Gebäude aus Empfindungstiefe, wohlabgewogener Verzweiflung, dezenter Begeiste
rung und geschliffenem Schmelz. Woraus man deutlich ersehen kann, daß es gar nicht
so sehr Laura war, die ihn gefangen nahm; er selbst, seine Gefühle und deren poetische
Darstellung haben ihn ergriffen. Aber vermutlich ist dies allemal die Quelle, aus der
Dichter schöpfen. Die Wirkung des Canzoniere auf die europäische Lyrik ist nicht zu
überschätzen.
1357 begann Petrarca mit den Trionfi, einem in Anlage und Ausformung vollkommenen
allegorisch-moralischen Terzinen-Gedicht (Reimfolge aba beb ede; Dantes Göttliche
Komödie weist diese aus drei elfsilbigen Versen bestehenden Strophen auf). Auch die
Trionfi legt der träumende Dichter der inzwischen an der Pest gestorbenen Laura zu
Füßen. Ihm erscheint die Vision eines Triumphzuges allegorischer Figuren: Liebe,
Keuschheit, Tod, Ruhm, Zeit und Gottheit. Diese Folge heißt: Die Liebe besiegt den
Menschen, triumphiert über ihn; die Keuschheit aber überwindet die Liebe, der Tod die
Keuschheit und so weiter. Evident, daß die Triumphzüge der lateinischen Antike -
Petrarca hatte in Rom voller Begeisterung die steinernen Zeugen dieser Zeit gesehen -
in das Gedicht Eingang fanden. Auch den Tieren, die die Triumphwagen ziehen, kommt
181