Nr. 29
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Ein glänzendes Beispiel für Wolframs unnachahmliche Kunst des verdunkelnden
Wortspiels: Die 2. Zeile wird erst durch die versteckte Verneinung, die in dem seldin
(= selten) der 4. Zeile steckt, verständlich.
. . . ich glaube fast, daß mich kaum jemand an einen Kuß auf einen so lieblichen Mund
gewöhnen könnte . . .
So nämlich perlten ihre Zähne. Ihn, den Wolfram, könnte man nicht an einen solchen
Kuß gewöhnen, ihn nicht! - aber den Toren Parzival. Das Spiel mit den beiden wene
wirkt in dieser Abschrift des 14.Jahrhunderts fast noch wolframischer als Wolfram
selbst, denn im Urtext wird in Zeile 2 die Ligatur waene (= wähnen) gestanden haben,
was dieses Wort vom zweiten wene (= gewöhnen) immerhin noch graphisch abgehoben
hatte. Hier in unserer Handschrift aber hat das späte Mittelalter schon den Schleier der
sprachgeschichtlich unkorrekten lautlichen Nivellierung geworfen.
Das hier gezeigte Fragment, geschrieben in gepflegter gotischer Textualis, entstammt
einer schönen Foliohandschrift. Es kam 1923 vom Staatsarchiv Marburg nach Kassel,
eine Tatsache, die Bernd Schirok entgangen ist. Es enthält ein Stückchen aus Buch 3, das
Parzivals Jugend, sein Leben mit seiner Mutter Herzeloide in der Waldeinsamkeit
enthält, ihre vergeblichen Versuche, ihn von der Welt fernzuhalten, seinen schließlichen
Auszug in die Fremde. Eine der vier Lehren, die Herzeloide ihrem Sohn mit auf den
Weg gegeben hatte, war, schöne Frauen zu küssen, die er antraf, und ihren Ring an sich
zu nehmen, wie es so schön bildlich heißt.
Die Kasseler Bibliothek besitzt zwei Fragmente aus dem Parzival des Wolfram von
Eschenbach. Das kurz vor 1200 bis 1210 - also vor dem 'Willehalm - entstandene Epos
ist das am reichsten überlieferte dichterische Werk des Mittelalters: 84 Handschriften
zeugen von der eminenten Wertschätzung. Rund 70 davon sind freilich nur Fragmente.
Nebenbei bemerkt: Man muß sich stets vor Augen führen, daß die mittelalterliche
deutsche Literatur ganz und gar nicht nur aus solchen poetischen Höchstleistungen
bestand. Es ist die Fachprosa, das nichtdichterische Schrifttum also, das die Regale
füllte. Weitaus häufiger als poetische Werke sind etwa der Sachsenspiegel, sind
bestimmte medizinische Texte überliefert.
Pergament • 1/2 Bl. • jetzige Maße: 11-13 x 22,5 cm • 2 Spalten • je 14-18 Zeilen erhalten • Mundart:
rheinhessisch • Mitte des 14.Jahrhunderts • Schrift: Textualis